May You Live in Interesting Times


Drehbuch des eigenen Lebens redux

In was für einer Sorte Film würden Sie denn selbst am liebsten leben?

In einem Krimi? – Lieber nicht.
In einem Action-Thriller? – Auch nicht.
In einem Katastrophenfilm? – Sicher auf keinen Fall!
In einer romantischen Komödie? – So viel falsche Gefühle muss man aushalten können.
In einer Folge einer Sitcom? – Bitte, bitte, bloß nicht.
In einem deutschen Autorenfilm? – Gääähhn!

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Glücklicherweise hat man keine Wahl, in welchem Film man in seinem Leben zu spielen hat. Die Rolle kann man sich teilweise noch selbst aussuchen, aber der Plot steht in der Regel. In unserem Fall heute 2020 ist das ein sehr chaotischer Mix aus Horrorfilm, Realsatire und Banal-Drama mit einer Vielzahl von Einsprengseln aus Krimi, Thriller, Katastrophe, Sitcom und – im Idealfall – Liebesfilm.

Würde man die Statisten in diesem Film, der Realität heißt, befragen, es würde die Mehrzahl von ihnen wahrscheinlich gerne aus dem Projekt ganz aussteigen, andere würden gerne das Script umschreiben, andere die Besetzungsliste radikal ändern. Die wenigsten würden sich begeistert zeigen von dem, was einem so jeden Tag im Film „Das ist Dein Leben“ geboten ist.

Alle Sicherheiten sind dahin

Die Liste der Zumutungen, die unser Drehbuch für uns in der heutigen Zeit bereithält, ist lang, sehr lang. Immer schneller rinnt die Zeit. Die Beschleunigung unseres Lebens ist real körperlich spürbar. Stress, Lärm, Anspannung, Hetze, Getrieben-Sein sind die Folgen. Spätestens seit die Digitalisierung wirklich zuschlägt, hat sich unser Leben komplett verändert: intensiviert und so hektisch wie nie.

Alle Sicherheiten sind dahin. Wir sind so spektakulär säkularisiert, dass wir nicht einmal recht wissen, warum wir die verschiedenen Feiertage feiern. Wie war das mit Ostern nochmal? Und mit Pfingsten? Weihnachten, o. k. das sind Krippe und Christkind und irgendwo ist ein Ros entsprungen. Ros, nicht Ross??? Kapitalismus und Demokratie, die letzten Ideologien, die uns noch geblieben sind, kränkeln auch schon beträchtlich. Und die Quanten-Physik nimmt uns noch die letzte Bastion der Logik. Dort kann plus zugleich minus sein und alles kann unendlich in vielen Zuständen gleichzeitig existieren.

Ein apokalyptischer Mix

Auch die einzige große Konstante, unsere Welt samt Natur, Klima, Flora und Fauna, ist nicht mehr das was sie einmal war. Was haben wir Menschen da über die letzten Jahrhunderte alles angerichtet! Brennende Wälder, Plastikmüll bis in die tiefsten Abgründe der Meere, Gift, Strahlung überall – und zugleich sterben so viele Tiergattungen aus wie noch nie zuvor. Alles aufgrund unseres eigenen Zutuns…

Der apokalyptische Mix, den das Drehbuch unserer Gegenwart für uns bereithält, ist für sensible Gemüter schwer aushaltbar. Schon weil er scheinbar so wenig tröstende Momente zu bieten hat. Und trotzdem – das ist nun mal so in Filmen – gibt es doch so viele Momente, in denen man Glück, Liebe und Zufriedenheit erlebt. Und das Ganze ohne schlechtes Gewissen. Schließlich ist unsere Psyche sehr begabt im Verdrängen und Ausblenden – und das ist gut so.

The Vertigo Years

Ich habe mit dem Drehbuch, das unsere Gegenwart für uns bereit hält, weit weniger Probleme, seit ich „Der taumelnde Kontinent – Europa 1900 – 1914“ von Philip Bloom lese. (Den Titel des englischen Originals: „The Vertigo Years“ – übersetzbar als: Jahre die einen schwindlig werden lassen, finde ich viel passender.) Das ist ein Geschichtsbuch der besonderen Art. Es behandelt – sehr gut lesbar – die Wirtschafts-, Wissenschafts-, Psychologie-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Es ist wirklich beruhigend zu lesen, wie sehr die Menschen auch damals unter extremen Veränderungen litten. Die Welt beschleunigte – relativ gesehen – ähnlich dramatisch wie wir es heute empfinden. Damals wurden die Züge wirklich schnell. (Teilweise kam man schneller von Hamburg nach Berlin als heute.) Autos kamen auf, das Flugzeug war erfunden. Ein Rekord nach dem anderen wurde gebrochen – und von den Menschen – schaudernd – gefeiert.

Neurasthenien, der Burn out der 20er-Jahre

Die Menschen wurden mit einer Unmenge an Informationen konfrontiert: damals noch per Zeitung und Buch. Gewissheiten lösten sich auf. Die Wissenschaft bewies ein ums andere Mal, dass die Bibel nicht recht hatte. Ob es um die Abstammung des Menschen vom Affen (Darwin) ging oder um den Ursprung der Welt im Kosmos, die Menschen damals hatten ihre großen Probleme, das intellektuell und vor allem psychisch zu verkraften.

Da hilft die neu entwickelte Wissenschaft der Psychologie. Damals litten die Menschen an Neurasthenien, psychischen Erschöpfungszuständen wegen der rasenden Veränderungen: politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Veränderungen. Heute nennen wir das Burn Out-Syndrom. Erstmals gab es Stars. Stars des Theaters Eleonora Duse), der Musik (Caruso) und natürlich des (Stumm-)Films. Menschen wollten alles über sie wissen, sie waren Stadtgespräch.

Geschichte wiederholt sich nicht?

Apropos Stadt. Immer mehr Menschen zogen in die Stadt. Weil es dort Jobs gab, aber weil dort auch neue Freiheiten zu erleben waren. Künstlerische Freiheiten, gedankliche Freiheiten – und auch sexuelle Freiheiten. Und wo neue Freiheiten auftauchen, werden sie immer von Menschen und Systemen bekämpft, die – ökonomisch, politisch oder intellektuell – viel zu verlieren haben und da populistisch geschickt die Illusion einer sicheren und idyllischen Vergangenheit propagieren, die es so nie gegeben hat.

Die Parallelen zu heute sind frappant, wenn man die Zeit des frühen 20. mit dem frühen 21. Jahrhundert vergleicht. Nein, Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es ist auf eine seltsam schöne Art tröstend zu sehen, dass wir als Menschheit, als Gesellschaft schon einmal durch ähnlich stressige und unübersichtliche Zeiten gegangen sind wie heute. Es ist interessant zu beobachten, wie wir Menschen immer wieder irren, wenn wir meinen, jeweils stets in den schlimmstmöglichen Zeiten zu leben.

Mögest Du in interessanten Zeiten leben

Und es ist auf eine gewisse Weise beruhigend zu sehen, dass wir Menschen, aus allen solchen Situationen irgendwie noch rausgekommen sind. Selbst wenn die damals herrschenden Mächte den mörderischen Lösungsansatz des Modernitätsdilemmas in Form eines Weltkrieges gewählt haben (und dann gleich noch einmal – samt Holocaust und Hiroshima). Gut, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Zumindest hoffen wir das mal ganz feste.

“May you Live in Interesting Times” war das Motto der Biennale 2019 in Venedig. Ganz Italien ist mit diesem Satz überschwemmt, denn jeder Illy-Kaffee hier wird seitdem aus Tassen mit diesem Aufdruck getrunken und mit Zucker aus Zuckertüten mit diesem Aufdruck gesüßt. Denn Illy-Kaffee ist in diesem Jahr der Sponsor der Biennale. Ein mutiger Ansatz in einem Italien von heute. Italien lebt definitiv in sehr „interessanten Zeiten“. Und wirklich glücklich darüber ist kaum jemand.

„May You Live in Interesting Times” gilt ja – auch laut Wikipedia – als alter chinesischer Fluch. Will man einem Menschen von Grund auf etwas Böses wünschen, dann gönnt man ihm „interessante Zeiten“. Dieser Fluch ist ein wunderbarer urbaner Mythos, der sich durch kein überliefertes chinesisches Sprichwort untermauern lässt. Bekannt gemacht hat diesen angeblichen Fluch Robert Kennedy, der ihn 1966 in einer Rede zitierte. Seine Rede schloss er, sehr nonchalant. „Like it or not, we live in interesting times!“ (Also auch schon 1966 waren die Zeiten wieder mal interessant.)

Merke: Solch ein Fluch funktioniert nicht, solange man in derselben Welt leben muss wie der unseres Widersachers! Und wenn es denn ein Fluch ist, ist das der Fluch der Evolution. Wir haben uns – willentlich oder eher nicht – immer für die interessante Lösung entschieden und so die Evolution bis zum Anthropozän vorangetrieben. Jetzt geht es darum, die Geister, die wir weckten, zu bändigen.

Aber war das nicht immer schon unsere dringendste Aufgabe?

 

Das Krippenschwein


Der ganz spezielle Glücksbringer

Es ist rosa, groß und gut im Futter. Es steht ein wenig verschämt ein wenig abseits des Zentrums des Interesses. Aber verwundert – und ein wenig neugierig – schaut es zu, wie da drei Herren in edlen Gewändern auf das kleine Kind, um das seit Tagen ein rechtes Gedöns gemacht wird, zu schweben. Was mag es in dem Moment nur denken?

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Eigenartige Hüte tragen sie. Sind das gar Kronen? Könige sind das vielleicht. Irgendwo aus dem Osten kommen sie, heißt es. Morgenland nennen das die Hirten hier. Auf alle Fälle bringen sie irgendwelche eigenartig riechenden Geschenke mit. Und sogar Gold. Das kriegt man hier bei den einfachen Leuten eigentlich sonst nie zu sehen. Die Lämmer glotzen da blöd. Haben wahrscheinlich noch nie Gold gesehen. Da bleibt ihnen staunend der Mund offen stehen. Leider nicht lange.

Es nervt, dieses dauernde Geblöke von den Schafschaften. Die Hirten haben alle ihre Wolltiere samt ihren Lämmern mitgebracht. Dutzende über Dutzende von ihnen. Die machen ein rechtes Gewese und blöken um die Wette. Nein, sie lobpreisen nicht das kleine Kindchen da vorne. Sie streiten sich nur mal wieder, welches trockene Gras wo besser schmeckt als hier. Schafe halt.

Ich habe eigentlich nur zwei echte Freunde hier. Die Kuh und den Esel. Die können auch mal ganz ruhig dastehen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Und darum geht es doch gerade. Wenn das stimmt, was man sich hier erzählt, soll der kleine Knabe da in notdürftigen Windeln einmal eine Art Gott werden, also mindestens der Sohn Gottes – oder so.

Brav die Hände falten!

Auch von Dreifaltigkeit war mal kurz die Rede. Seitdem falten die Hirten, dieses gutgläubige Volk, dauernd ihre Hände. Keine schlechte Idee eigentlich, denn so können sie mit ihren Händen nichts Böses anstellen. Tiere abschlachten etwa. Das ist ja eine ziemliche Unsitte dieser Menschen da. Immer wenn irgendwas Übersinnliches passieren soll, wird im voreiligen Gehorsam ein Tier geschlachtet. Als ob das schon je mal etwas gebracht hätte.

Meistens erwischt es ja die Lämmer, wenn es ums Schlachten für Götter oder anderes Personal geht, das nicht von dieser Welt ist, oder es zumindest behauptet. Aber auch wir Schweine sind da nicht vor Übergriffen sicher. Gott sei Dank sind wir schnell und können uns mit unserem Gewicht ganz gut wehren. Aber es heißt halt immer, gut aufzupassen. Wenn dieses eigenartige Funkeln in den Augen der Menschen losgeht, wenn sie einen ansehen, heißt es, sich schleunigst aus dem Staub zu machen.

Staub mag ich ja sowieso nicht. Ich bevorzuge Schlamm. Das erfrischt, wenn es hier mal wieder recht heiß ist. Aber das gibt es hier nur, wenn es mal richtig stark regnet. Das passiert aber nur alle Weihnachten. Also so gut wie nie. Wenn der Boden so knallhart wie immer ist, bleibt uns armen Schweinen nichts anderes übrig, als uns in unserer eigenen Scheiße zu wälzen. Als Schlamm-Ersatz.

Unreines Schwein

Hat auch sein Gutes. So stinken wir meilenweit und die Menschen gehen uns aus dem Weg. Manche, vor allem die gläubigen Herrschaften mit den komischen Löckchen links und rechts vom Gesicht, haben eine wahre Abscheu vor uns. „Unrein“ nennen sie uns – und deshalb unessbar. Uns soll es recht sein. Diese Haltung ist spürbar lebensverlängernd. Sehr vorbildlich. Sollten sich andere Religionen mal eine Scheibe davon abschneiden.

Ich darf hier so an prominenter Stelle neben der Krippe sowieso nur stehen, weil ich blitzsauber bin und daher einen wunderschönen rosa Farbklecks ins Idyll bringe. Das passierte aber nur aus Versehen, weil ich vorhin, als ich etwas ungeschickt geklettert bin, in den Bach gefallen bin und so meine schützende Schmutzschwarte verloren habe. Daher bin ich hier geduldet – und solange die Herrschaften ihre Hände brav gefaltet lassen, auch vor Übergriffen auf mein fein mit Fett durchzogenes Muskelfleisch sicher.

Ein bisserl ein Fremdkörper bin ich ja schon. Oder hat schon mal einer ein dickes, rosa Schwein an Jesu Krippe gesehen? Eben nicht. Ochs und Esel, die schon. Und Schafe und Lämmer sowieso. Nur wir Schweine kommen beim Krippen-Szenario immer zu kurz. Dabei sind wir doch der Glückbringer. Kein Wunder, dass die Geschichte mit dem kleinen Jesulein dort drüben normalerweise kein echtes Happy End hat. Kein schöner Tod, da an dem Kreuz. Und das nur, weil kein Schwein zugegen war, um dem kleinen Winzling alles Glück der Welt in die Wiege zu legen.

Epilog

Ein kurzer Exkurs zum Verhältnis Religion und Schweinefleisch. Orthodoxe Juden und Muslime lehnen gleichermaßen den Verzehr von Schweinefleisch strikt ab. Schweinefleisch gilt hier als „unrein“, nicht zuletzt weil sich Schweine im Schlamm – oder noch schlimmer – in ihren eigenen Exkrementen wälzen. Schweine tun das, um ihren Hitzehaushalt so zu regeln. Sie haben keine Schweißdrüsen und brauchen daher Flüssigkeit von außen, um sich abzukühlen.

Dieser offizielle Grund kann eigentlich nicht recht funktionieren, denn auch andere Tiere wälzen sich gerne mal im eigenen Dung, Kühe etwa, im Stall zum Beispiel. Die Verfemung des Schweins vor allem im Orient dürfte eher damit zusammenhängen, dass hier Wiederkäuer, die Gras und Heu fressen, willkommener waren und effektiver als Schweine, die ähnlich wie wir Menschen Allesfresser sind und dieselben Dinge fressen wie wir selbst. Sie sind im Orient schlicht unwillkommene Nahrungskonkurrenten, deren Verfemung religiös legitimiert und festgezurrt wurde.

Besuch von Onkel August


Trambahn und die Gerüche Alt-Münchens

Seltsame Assoziationsreihen durchziehen manchmal meinen Kopf. Und sie wecken längst verlorene, verloren geglaubte Erinnerungen. Start der Reise in kindliche Erinnerungen war im Museum der Münchner Verkehrsgesellschaft im Depot in der Ständlerstraße. Ich hatte Lust auf vergangene Trambahn-Erinnerungen.

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Straßenbahnen waren für unsere Familie, die nie ein Auto besessen hat, weil Papas Kriegsverletzungen und Mamas gesundheitliche Instabilität einen Führerscheinbesitz verhinderten, das gängige Verkehrsmittel. Wir nutzten die weiß-blauen Wagen nicht nur, um von Berg am Laim in die Stadt zu fahren, sondern zu wahren Expeditionen. Von uns im tiefsten Osten Münchens zu unseren nächsten Verwandten in Neuaubing, im äußersten Westen der Stadt, fuhr man damals mit der Linie 19 direkt – aber weit über eine Stunde.

Sie Depp, Du!

Auch die wochenendlichen Wanderungen starteten – und endeten – stets mit einer ausgiebigen Straßenbahnfahrt nach Grünwald oder Pullach. Und natürlich brachte mich die Tram auch jeden Tag ins Wilhelmsgymnasium am Max-II-Denkmal und zurück. Auch in den Übungsraum unserer Band, der unglücklicherweise im Norden am Petuelring lag, ging es anfangs mit der Straßenbahn, später mit der neu gebauten U-Bahn. Aber wehe, man verpasste, weil es gerade so viel Spaß machte in Kneipen, Konzertsälen oder Clubs, die letzte Tram nach Hause. Dann hieß es, einen stundenlangen Weg nach Hause zu Fuß in Angriff zu nehmen. Der Ernüchterung half das oft durchaus. Nachtlinien gab es damals halt nicht.

 

Lebhafte Erinnerungen an das Gerumpel und Gewackel der alten Straßenbahnen kommen hoch, wenn man im Museum vor den alten Wagen der Reihe G oder den Heidelberger Wagen oder der wohlbekannten Baureihe M steht. Unvergessen das Initiationserlebnis des Erwachsen-Werdens, als mich ein Schaffner von der hinteren Plattform verjagen wollte und ich mich renitent zeigte. „Sie, Depp, du!“, schnauzte er mich an. Das war das erste „Sie“ meines damals noch sehr jungen Lebens.

Ein Wagen von der Line 8

Die überraschendste Erinnerung aber war eine plötzliche akustische und olfaktorische, als ich vor den barocken Formen des Wagens der Baureihe G stand. Ich wunderte mich, wie klein der Wagen war. Mir als Kind schien die Tram so viel größer. Und plötzlich hörte ich das notorische „Bitte nach vorne durchgehen!“ der durch die Wagen turnenden Schaffner und die damals üblichen Durchsagen, denen Weiß Ferdl mit seinem „Ein Wagen von der Linie 8“ ein wunderbares Denkmal gesetzt hat. „Aber Leit, lassts doch d‘Leit naus!“

Weiß Ferdl

Verblüffender als solch Alt-München-Nostalgie war der plötzliche Erinnerungs-Flash an die Gerüche, die damals in den Wagen herrschten. Denn die sind nicht von Volkssängern besungen. Ich erinnerte mich plötzlich an diese spezielle Mischung aus körperlichen Ausdünstungen, alten, nicht genügend ausgelüfteten Klamotten, Zigaretten- und Zigarrendünsten, Alt-Männer-Geruch, Menstruations-Flair und billigem Parfum.

Frisch mit Trockenshampoo

Wie geruchsbefreit leben wir heute, wurde mir plötzlich klar. Damals wurde bei uns nur einmal in der Woche gebadet. Unter der Woche war der Waschlappen für die nötige Hygiene zuständig. Haare wurden auch nur einmal die Woche gewaschen. Entweder verdeckten Hüte und Kopftücher die fettenden Haare oder es wurden die Haare mit Trockenshampoo („Frottee“ von Schwarzkopf) etwas entfettet. Die Wäsche wurde auch nur zweimal die Woche gewechselt. Entsprechende Ausdünstungen durchzogen damals die engen Wagen der Straßenbahn, in denen man eng auf eng stand, weil es nur so wenig Sitzplätze auf den Holzbänken an den Längsseiten der Wagen gab.

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Während solche olfaktorischen Erinnerungen vor meiner inneren Nase vorbeizogen, stand plötzlich das Bild von Onkel August vor meinem Auge. Er war für mich als Kind der Inbegriff der damaligen Gerüche. Onkel August war nur ein „Nenn-Onkel“, er war ein Kollege und Freund meines Vaters aus seinen Junggesellenzeiten in Berlin. Er war gewaltig dick und sommers wie winters in einen dicken Wollmantel gehüllt, der so typisch nach Onkel August roch. Nach alter, schwerer Wolle, nach wenig Körper- und Kleiderreinigung und ganz viel Zigarrenduft, oder „Gestank“, wie sich meine Mutter auszudrücken pflegte.

Asbach Uralt to go

Onkel August, mit richtigem Namen August Endruschat, war so etwas wie eine Nemesis für meine Mutter. Er kam mindestens einmal pro Jahr aus Koblenz, wo er als Gerichtsvollzieher arbeitete, nach München angereist, um seinen Freund Bruno, meinen Vater, zu besuchen. Er kam manchmal unangekündigt, vielleicht hatte mein Vater auch versäumt, sein Kommen anzukündigen. Aus gutem Grund. Denn meine Mutter wehrte sich stets mit allen Mitteln gegen den Besuch von Onkel August. Stets vergeblich.

Dabei war Onkel August, sein Leben lang Junggeselle geblieben, ein Kavalier. Er brachte immer ein paar Blumen für Mama und für mich ein kleines Matchbox-Auto als Geschenk mit. Das zentrale Problem war aber sein notorisches drittes Geschenk: eine Flasche „Cognac“, wie er immer die Flasche „Asbach Uralt“ hochtrabend zu bezeichnen pflegte. Und so sicher wie das Amen in der Kirche war die Flasche am selben Abend komplett geleert. Asbach to go sozusagen. Papa und Onkel August waren dann stark alkoholisiert, sprich sternhagelvoll und mussten von Mama irgendwie in Betten bugsiert werden.

Zigarre, Wolle und Altherrenschweiß

Nichts hasste Mama mehr als einen alkoholisierten Ehemann. Sie selbst genehmigte sich schon mal einen kleinen Schwips, denn dann konnte sie kicherig wie ein kleines Mädchen werden. Ich erinnere mich an die dann übliche gekicherte „Drohung“: „Ich mache mir gleich in die Schlüpfer.“ Aber der komplette Kontrollverlust bei einem schweren Besäufnis, das war die absolute Alarmsituation in unserem sonst so akkurat geführten Haushalt. Und Onkel August war der Garant für die Ausnahmesituation in der Familie Konitzer.

MichiSteigtEinMeine deutlichste Erinnerung an Onkel August aber war der Geruch, den er mit seinem Besuch ins Haus brachte – und der dann für Tage noch leise die Räume durchzog. Alkohol, Zigarre, alte Wolle und alter Mann. Nicht direkt unangenehm, aber irritierend und fremd. Keinen Geruch, den ich vermisse. Aber die Erinnerung macht klar, wie viel sich seitdem geändert hat. Zum Besseren, auf alle Fälle, für unsere Geruchssensoren. – Warum auch immer solch Erinnerungen wach werden, wenn man leise amüsiert und mäßig interessiert vor alten Straßenbahnen im Tram-Museum der Münchner Verkehrs Gesellschaft steht.

Nachklapp

#Nachklapp 1: Papa war dann der Erbe von Onkel August. Er hatte für eine standesgemäße Beerdigung in Koblenz und ein schönes Grabmal zu sorgen und im Gegenzug erbte er ein paar tausend Mark, ein Radio, das lange in unserem Wohnzimmer seinen Dienst tat und eine goldene Taschenuhr, die irgendwo in der Devotionalien-Kiste mit den Erinnerungen an meine Eltern liegt.

Nachklapp 2: Zeitgleich zu den Öffnungszeiten des Museums fand auch ein umfangreiches Modelleisenbahn-Meeting statt. Faszinierend zu sehen, wie Kinder auch heute noch staunend vor den Landschaften mit den still vor sich hinfahrenden Zügen stehen. (Irgendwo auf dem Speicher wartet auch noch meine Märklin-Eisenbahn auf ihren finalen Einsatz…) Und interessant auch zu sehen, wie viele – auch junge – Menschen sich noch aktiv für das Hobby der Modelleisenbahn begeistern können.

Welten mit Zacken


Die vergangene Kunst des Briefmarkensammelns

„Briefmarken waren Fenster in wunderschöne fremde Welten. Kleine Fenster mit gezackten Kanten, kleine Bildschirme auf denen wunderschöne bunte Bilder projiziert waren. Sie waren nicht besonders wertvoll, aber die bunten Farben, die stolzen Köpfe von Monarchen, die exotischen Vögel und andere Tiere, die majestätischen Schiffe und Flugzeuge, die dort abgebildet waren, waren faszinierend.“

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Die blaue und die rote Mauritius, die teuersten Briefmarken der Welt

Schöner habe ich das weit verbreitete Hobby der Nachkriegszeit, das Briefmarkensammeln, nie beschrieben erlebt wie im Thriller von Peter Robinson „No Cure for Love“. Diese Sätze haben mir geholfen, wieder ein wenig mehr von meinem Vater zu verstehen, der mit Hingabe, Geduld und Fleiß Briefmarken gesammelt hat.

Mit Pinzette und Lupe

Ich habe ihn als Kind oft beobachtet, wie er mit Pinzette und einer dicken Lupe bewaffnet über seine Briefmarkenalben gebeugt saß und die Briefmarken ergänzte, vorsichtig neu sortierte oder auch nur betrachtete. Sie waren nach Ländern und Motiven geordnet und waren am Ende als er – früh – starb, in ca. 25 Alben sortiert. Der Großteil waren Briefmarken aus Deutschland, West und Ost, vor dem Krieg und nach dem Krieg. Aber auch die fernen Kontinente waren umfangreich vertreten und natürlich alle Länder Europas.

So haben mir die Briefmarken eine solide Grundbildung in Geografie und Historie vermitteltet. Ich wusste, wo die verschiedenen Länder der Welt lagen, wie ihre Oberhäupter aussahen, ihre Trachten, technische Errungenschaften und Naturschauspiele (samt Flora und Fauna). Ich kannte Hindenburg und Hitler, erlebte in absurden Preisaufdrucken die Inflation nach dem ersten Weltkrieg und die Ausdehnung des Deutschen Reiches nach Afrika und Asien – lange bevor das im Geschichtsunterricht durchgenommen wurde.

Der Fetisch der Ersttagsbriefe

Und ich kannte die DDR sehr gut, samt ihren Parolen und ihrer martialischen Staatskunst. Meine Tante, die Schwester meines Vaters, arbeitete in der DDR bei der Post und so bekamen wir alle Neuerscheinungen samt Ersttagsbriefen komplett frei Haus, gestempelt und ungestempelt. Ersttagsbriefe! Es war noch ein Ereignis, wenn neue Briefmarken ausgegeben wurden. Old School-Marketing.

Ich habe nie darüber nachgedacht, was meinen Vater dazu gebracht hat, Briefmarken zu sammeln. Dazu war dieses Hobby in den 50er- und 60er-Jahren zu normal, weit verbreitet und gut beleumundet. Es war der anerkannte Zeitvertreib. Frauen legten Patiencen, Männer widmeten sich ihren Briefmarkensammlungen. Das war der Zeitvertreib vor TV und Internet.

Bildung mit kleinen gezackten Bildchen

Peter Robinson öffnete mir jetzt eine ganz andere, neue Perspektive, dieses Hobby anzusehen. Briefmarken waren wirklich Fenster in andere, fremde Welten. In andere Länder und andere Zeiten. Es war der kleinstmögliche Fernweh-Fetisch – und ein klein wenig auch ein Grundkurs in fremden Sprachen. Man wusste immerhin, wie die länder sich selbst nannten. Sverige war Schweden, Norge Norwegen. Frankreich war France und die Schweiz Helvetia. Und natürlich lernte man auch die fremden Währungen kennen.

Mein Vater hatte definitiv Fernweh. Das erste Mal kam er wohl unfreiwillig aus Deutschland heraus, als Soldat nach Frankreich. Da zog es ihn nach seiner schweren Kriegsverletzung dank der Resistance nie wieder hin. Dafür aber immer und immer wieder nach Italien. Aber auch nach Spanien und sogar Marokko. Das war damals ein Abenteuer, da fuhr man Anfang der 60er Jahre per Schiff hin, von Genua aus.

Die Hoffnung auf den großen Gewinn

Das Fernweh war so groß, dass mein Vater schon Anfang der 50er Jahre italienisch lernte und es gut und flüssig sprach. Er übte ja auch viel. Am liebsten wandte er es in länglichen Preisverhandlungen für Souvenirs und Schmuck für seine Frau an. Da war er in seinem Element obwohl er sonst, was Geld und Finanzen anbetraf, eher unbedarft und ängstlich war, Kriegskind (2 Weltkriege) und Flüchtling (auch 2 mal), der er war.

Ach ja, ein bisschen Lotteriespiel war das Briefmarkensammeln ja auch. Immer wenn mein Vater mit einer neuen dicken Tüte voller en gros gekaufter Briefmarken nach Hause kam, war beim ersten Checken und Vorsortieren auch immer die Hoffnung dabei, dass in dem Haufen eine ganz seltene, wertvolle Briefmarke dabei sein könnte. Keine blaue Mauritius, aber wenigstens ein Fehldruck oder eine seltene Marke ungestempelt.

Das private Fort Knox

Und natürlich war der offizielle Grund des Briefmarkensammelns, dass das eine erstklassige Wertanlage wäre, die kontinuierlich im Wert steigen würde. Für mich waren die Alben als Kind so etwas wie unser ganz privates Fort Knox. Ein buntes Sammelsurium an Wertpapieren mit gezahnten Kanten.

Ich habe die Briefmarkensammlung Mitte der 90er Jahre verkauft. Nach drei Umzügen mit der geerbten Sammlung hatte ich genug davon. Die Wertanlage stellte sich als eher dürftig heraus. Ich bekam gerade mal 6.000 Mark dafür. Herzlich wenig für die ausdauernde und penible Arbeit, die mein Vater in seine Sammlung investiert hat. Aber inzwischen hatte das in Flugzeugen und Autos ausgelebte touristische Fernweh längst diese winzigen Bildchen entwertet.

Wenn Träume Träume bleiben dürfen

Danke an Peter Robinson, dass er mir den Wert der kleinen Bildchen wieder zurückgegeben hat und er die Erinnerung an meinen Vater um eine wunderschöne Facette ergänzt hat. Eine Facette mit gezackten Kanten, ungestempelt und völlig neu gedruckt.

Briefmarken: Eine sehr ökologische Art, Fernweh auszuleben, ganz ohne Billigflieger, Autobahnstau, Touristenschwärme und Kreuzfahrtschiffe. Eine sehr phantasievolle Art von Fernweh: Die kleinen Bildchen mussten schließlich in der eigenen Imagination zum Laufen gebracht werden. Eine Erinnerung an eine Zeit, in der unsere Träume noch nicht wahr geworden sind, sondern nur geträumt wurden.

[Übrigens: Peter Robinson und vor allem seine Inspektor-Banks-Serie sind mein Favorit, wenn es um – britsche – Krimis geht. Vor allem, weil man dabei auch eine Menge erstklassiger Musik-Tipps bekommt – von Klassik bis Pop und Rock. Und gut geschrieben sind sie sowieso alle.]

Die Verdummung Amerikas


Jede Kritik an ihm macht Trump stärker

Als Mensch, der in der Schule Rhetorik am Beispiel eines Cicero nahe gebracht bekommen hat, ist jede Rede von Donald Trump eine Pein. Nicht dass man im Römischen Reich vor 2.000 Jahren nicht auch gelogen hat, dass sich die Balken (der Rednerbühnen?) gebogen haben. Ein Julius Cäsar hatte einen ähnlich kreativen Umgang mit Fakten und Wahrheiten wie die Populisten heute. Aber ihm gelang es wenigstens, einen Gedanken nach dem anderen verständlich zu formulieren.

Donald Trump Hairstyle

Anders Donald Trump. Wenn er frei spricht, schafft er es ohne Anstrengung (wahrscheinlich genau deswegen!) in gestoppten 32 Sekunden Redezeit sieben Themen nacheinander anzureißen, ohne eines davon zu irgendeinem Ende zu bringen. Jeder Goldfisch wäre mit solch einer Rede unterfordert, wie der britische Comedian John Oliver scherzt (min 6:20).  Nichtsdestoweniger bekommt er viel Beifall bei solchen Reden. Nicht nur von seinen Claqueuren, die er zu allen seinen Reden mitbringt. (Hat er sich von Putin & Co. oder auch den alten Römern abgeschaut.)

Realitäten aus Wolkenkuckucksheim

Egal welche öffentliche Rede man sich von Trump anschaut/anhört. Egal wie gruselig die Inhalte sind, wie viel gelogen wird und Tatsachen verdreht werden, Trump begeistert seine Massen. Er tut das um so mehr, je weniger er an einem Redemanuskript hängt. Frei spricht er am erfolgreichsten. Vor allem auch, weil er dann völlig unbekümmert die Realitäten beschreiben kann, wie er sie sich in seinem Wolkenkuckucksheim (derzeit Pennsylvanian Avenue 1600) zurechtgezimmert hat.

Ich habe einige Zeit gebraucht, bis ich verstanden habe, was Trump in seinen Reden so erfolgreich macht. Vor allem, weil man ja so konsterniert ist über seine billige Art, Beifall zu heischen. „Fremdschämen“ ist als Ausdruck zu harmlos, wenn man seine Lügen und Verdrehungen hört und seine mangelnde Kenntnis von Grundwissen live erleben muss.

Monolog unter Gleichgesinnten

Tatsache ist, dass Trump rein gar nicht zu Menschen wie mich und Unsereinem spricht. Er spricht ausschließlich zu Seinesgleichen. Zu Menschen, die genauso ungebildet, vorurteilsbesessen, banal und stumpf sind wie er selbst. Zu Menschen, die genauso gerne an Verschwörungstheorien glauben wie er, die ebenso Gutmenschen und treue Steuerzahler verachten. Kurzum, die sich vom politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen System abgehängt fühlen; weil sie weniger Bildung, weniger Geld, weniger Chancen und weniger Perspektive haben. Ausgerechnet sie haben in ihm, dem reichen Söhnchen, der Chancen im Übermaß hatte, ihr Idol gefunden.

Trumps Geheimnis ist auch seine banale Sprache. Linguisten haben es analysiert: Es ist der Sprachstil eines Viertklässlers. Sein Wortschatz ist extrem begrenzt, er nutzt nur kurze Worte und Begriffe, malt damit aber prägnante Bilder. Er grenzt keinen Zuhörer durch zu viel Zahlen, Wissen, Fremdwörter oder komplexe Inhalte aus. Das ist nicht neu, das hat schon Berlusconi und anderen seines Kalibers zum Erfolg verholfen. Aber Trumps Sprache ist zudem grammatikalisch brutal primitiv. Sie ist stets nur eine Aneinanderreihung von kurzen Sätzen, unterbrochen nur von Inklusions-Gesten nach dem Motto: Wir verstehen uns, wir sind die, die fürs Richtige kämpfen.

Ausgrenzung der Etablierten

Mit seiner Art zu reden – und seinen Inhalten – grenzt Donald Trump wirksam die Andersdenkenden, die Gebildeten, die Wissenden und die Menschen aus, denen Komplxität keine Angst macht. Daher geht die Philippika des Schriftststellers und Intellektuellen Philipp Roth gegen Trump in der New York Times ins Leere: „Ich habe noch nie einen Politiker erlebt, der menschlich so armselig ist, wie Trump: Er hat keine Ahnung vom Regierungsgeschäft, von Geschichte, Wissenschaften, Philosophie oder Kunst. Er ist unfähig, Subtiles oder Nuanciertes auszudrücken oder zu verstehen, er kennt keine Scham und sein Wortschatz umfast gerade mal 77 Wörter.“

Trumps Sprachstil und seine Inhalte sind sogar das perfekte Gegenmittel gegen Kritik solcher Art. Seine Sprache ist, TV-Reality-geübt, das perfekte Antidot (Achtung, Fremdwort) gegen jeden Intellektualismus, gegen das Establishment und ihre kulturellen, sprachlichen und wissenshuberischen Ausgrenzungsriten. Sie schafft ein heimeliges Zugehörigkeitsgefühl der Zu-kurz-Gekommenen, der Ungebildeten und Unwissenden, der Chancenlosen. Sie fühlen sich ernst genommen, sie haben das Gefühl, verstanden zu werden, weil sie diesen Trump verstehen. Und zum Dank nehmen sie ihm auch noch jeden Unsinn ab und bejubeln ihn.

Die gespaltene Gesellschaft

Trump und seine Unterstützer haben kapiert, dass die amerikanische Gesellschaft (und nicht nur die) brutal gespalten ist: Zwischen urbanen, besser gebildeten und sensibel sozialisierten Menschen und den von Bildung und Jobchancen abgehängten ländlichen Gebieten im amerikanischen Kernland: der Heimat der Republikaner und der Religiösen, der von Arbeit und Chancen beraubten Arbeiter, der unteren Mittelklasse. Trump baut durch seine hypersimple Sprache eine veritable Mauer zwischen Stadt und Land.

In den ländlichen Gebieten ist man von Bildung, Wissen und der Vielfalt urbaner Gesellschaft und urbaner Medien abgeschnitten und dafür heimgesucht von beredten Spinnern, Predigern und Talkradio-Hosts, die Verschwörungstheorien und Unbildung verbreiten und das Sprachniveau längst auf niedrigstes Niveau gebracht haben. Überraschend, dass ausgerechnet ein New Yorker diesen niedrigen Sprachlevel genau trifft. Donald Trump ist der lebende Beweis dafür, dass auch ein New York Weltläufigkeit nicht garantieren kann.

Jede Kritik hilft Trump

Es nutzt daher nicht, wenn wir jede der Reden Trumps analysieren, wenn wir deren Fakten penibel checken oder uns auch nur lustig über ihn machen. Wir sind Trump so egal wie sonst was. Wir sind der Feind, und jede kritische Anmerkung, sei sie noch so richtig, klug oder feinsinnig, verstärkt nur die Wirkung seiner Reden bei seiner Zielgruppe. Jede Kritik der Intellektuellen lässt Trump in den Augen seiner Fans noch mutiger, noch entschlossener und wichtiger wirken.

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Nein, der gebe ich keine Hand! Die ist ja Physikerin!

Der verweigerte Händedruck mit Merkel und der pöbelhafte Auftritt Trumps bei der NATO und der G8 waren kein Zufall. Das war jeweils eine Konfrontation mit dem Feind: Angela Merkel, eine Wissenschaftlerin, Physikerin sogar, die Rationalität liebt, das ist für Trump, den Pöbler und Gernegroß, die Personifizierung des Anti-Trump. Und jedes Merkel-Bashing oder die anhaltenden Beleidigungen des Londoner Bürgermeisters, einem Intellektuellen und Muslim, bringt Trump Punkte bei seinen Fans und Wählern. Und Trump hat nie aufgehört Wahlkampf zu machen, jetzt schon für die Wahl 2020.

Die De-Intellektualisierung der USA

Spannend wird sein, ob Trump es schafft, der Dummheit in Amerika auf Dauer eine Mehrheit zu geben und die amerikanische Gesellschaft erfolgreich zu de-intellektualisieren und damit zu de-politisieren. Spannend wird sein zu beobachten, ob und wie es Wissenschaft, Intellektualität und Vernunft schaffen, wieder von den Abgehängten und Unterprivilegierten, von den Unwissenden und Ungebildeten gehört und verstanden zu werden.

Das ist die Herausforderung, vor der wir auch in Europa im Angesicht von Populismus und rechten Rattenfängern stehen. Wie ist es zu schaffen, die wirtschaftliche und die intellektuelle Spaltung unserer Gesellschaft zu bremsen oder gar aufzuheben? Nur mit schönen Worten geht das wohl nicht. Aber ebenso wenig mit einer Infantil-Sprache à la Trump.

 

 

Die Zukunft der Zukunftsforscher


Holt die Gegenwart die Zukunft ein?

„The future is moving closer to the present, as if they were actually apart, that is.“, schreibt Robert Fripp (King Crimson) am 2.Januar 2017 in seinem Tagebuch. Zukunft und Gegenwart kommen immer dichter zusammen, wenn sie denn je getrennt waren. Der Satz erinnert mich an die ewige Wahrheit aller Zukunftsforscher, die William Gibson formuliert hat: „Die Zukunft ist längst schon da. Nur nicht gleichmäßig verbreitet.“ („The future is already here – it’s only not evenly distributed.“)

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Wenn der Kühlschrank leise chattet…

Nie war der Job für Zukunftsforscher schwieriger als heute. Die technische Entwicklung in vielen Bereichen geht rasend schnell voran. Da kann man mit Voraussagen schnell danebenliegen. (Mathias Horx leidet gerade wieder an entsprechender Häme.) Die soziale und kulturelle Verarbeitung all dieser technischen Neuerungen hinkt deutlich hinterher. Entsprechend schlecht kann man neue Wirklichkeiten prophezeien. Sicher ist hier nur, dass sich nichts so entwickeln wird, wie Techniker und ihre Promotoren (auch in den Medien) es voraussagen. Bestes Beispiel für solche Flops: das Fabelwesen des intelligenten, kommunizierenden Kühlschranks.

Der unerwünschte Bastard

Hier darf man William Gibson neu interpretieren: Die soziale und kulturelle Adaption findet längst statt, nur nicht überall gleich. Die jungen und jüngsten Generationen tun das längst. Aber die Generationen, die über die administrativen Anpassungen und kulturellen Lernprozesse entscheiden, hinken noch schwer hinterher: Wir erinnern uns an Merkels „Neuland“, an die Philippika des Chefs der Lehrergewerkschaft gegen digitale Geräte in der Schule – und natürlich mit besonderem Grausen an den digitalen Kommissar Günther Oettinger.

Irgendwo in dieser Kluft zwischen stiller, unreflektierter Adaption durch die Jungen und Unkenntnis, Desinteresse und Ignoranz der Älteren und Mächtigen findet derzeit unsere Zukunft statt. Ein elternloser Bastard, für den niemand Verantwortung übernehmen kann bzw. will. Ein unerwünschtes Kind für die Eliten, die ihre Privilegien durch die Digitalisierung gefährdet sehen. Siehe die Finanzkrisen und die offensichtliche Abscheu, die etwa ein Donald Trump für Computer und all das Internet-Gedöns formuliert.

Technik ist Pop

Die junge Generation staunt, welche Spielzeuge ihnen die Technik und die digitalen Dienste in die Hand geben. Sie versuchen ganz skrupellos (… und das ist gut so), irgendwie daran Spaß zu finden und finden ihn fast immer dort, wo es die Techniker und Vermarkter nicht erwartet haben. Und wenn es auch nur der Spaß ist, dass die Erwachsenenwelt nicht mit neuer Technik und ihrer Nutzungskultur klar kommen. Das war schon immer der Hauptmotivator für junge Menschen: von älteren Generationen verwaiste Regionen zu (er-)finden. So gesehen sind Technik und Digitalität Pop. Und Zukunft ist es irgendwie auch.

Die Zyklen dieser Eroberung neuer virtueller Freiräume, deren lärmende Kartierung durch die Medien und der Versuch, der mal naiv positiven, meist aber warnend abwartend oder ignorant unterbindenden (Oettinger!) Reaktion der Mächtigen (Kapital und/oder Politik) werden immer kürzer. Fast mag es wie eine Echtzeitreaktion in Zeitlupe aussehen. Daher stimmt der Eindruck, dass Zukunft und Gegenwart immer enger zusammenrücken.

Das Dilemma der Zukunftsforschung

Zukunftsforschung ist bislang meist der Versuch, von absehbaren Innovationen und verlässlichen statistischen Entwicklungen für mögliche Adaptionen in technischer, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht Prognosen zu wagen. Mit den heute nur noch minimalen Aneignungszeiten ist die Art von Zukunftsforschung heute obsolet.

Wegweiser Zukunft
Geht’s zur Zukunft nach rechts?

Erschwerend kommt die Generationenkluft zwischen Zukunftsschaffenden (den Jungen) und (älteren) Zukunftsanalytikern hinzu. Das Adaptionsgeschehen der Digital Natives erscheint aus der vermeintlichen Höhe analytischen Wissens und vordigitaler Kultur naturgegeben eher wirr. Ist es auch. Aber wie sonst soll eine Adaption im non-linearen Raum funktionieren? Die Generation der Analytiker hat nie das Try-and-Error-Prinzip gelebt. Schon gar nicht in Deutschland.

Der kaputte Mythos

Im übrigen hat die Zukunftsforschung ihren Ur-Mythos eingebüßt. Sie versprach fast immer, mit wenigen Ausnahmen (in Deutschland) eine Zukunft, in der wir es besser haben werden. Sie versprach mehr Bequemlichkeit (angenehm), mehr Freiheit (anstrengend aber positiv besetzt) und mehr Glück (bzw. Glücksersatz).

Nur Ersteres ist wahr geworden. Die Bequemlichkeit hat uns alle Bedenken um unsere Privatsphäre vergessen lassen. Das mit der Freiheit hat sich als Schimäre entpuppt, schon weil die meisten Menschen mit diesem Gut (und der damit verbundenen Verantwortung) nicht umgehen können. Und Glück, ob materiell oder spirituell, bringt nie die Zukunft, die kann nur die Gegenwart liefern.

Die Zukunft, die haben die anderen

Eine rosa Zukunft, in der wir es alle besser haben werden, das wagt kein ernst zu nehmender Zukunftsforscher mehr zu prognostizieren. Zwar zeigen alle Statistiken, und davon viele ernst zu nehmende, dass es uns heute so gut geht wie noch nie. Dass weniger Menschen hungern, weniger Kinder sterben, immer weniger Armut herrscht und es weniger Kriege seit Menschengedenken gibt.

Aber diese Zahlen beweisen nur, dass es unheimlich vielen Menschen in Asien, Südamerika und Afrika besser geht. Die breite Masse der Menschen in Europa oder Amerika stagniert in ihrem Wohlstand dagegen seit langem. Zugleich wird die Schere zwischen Arm und Reich immer größer. So erlebt man subjektiv eine gefühlte Verarmung im Vergleich zu den Hyperreichen. Und die Aussichten sind mager. Der Wachstums-Traum ist ausgeträumt. Schon mangels Ressourcen und aufgrund der unabsehbar wachsenden Zahl an Menschen auf dieser Erde.

Der amerikanische Traum

Auffallend war rund um den Jahreswechsel, wie viel Zukunftsprognosen in den internationalen, vor allem amerikanischen Medien zu lesen waren. Donald Trumps Retro-Politik zum Trotz. Viele Artikel begeisterten sich einmal mehr für neue Technologien, neue Gadgets und neue Bequemlichmacher (Amazon: Alexa!).

Aber es gab auch viele erstaunlich tiefschürfende Zukunftsperspektiven zu lesen. Etwa wie die absehbaren Verbesserungen in Medizin und Gesundheitstechnolgie unser Leben und die dabei vital gelebte Zeit massiv verlängern werden. Aber wie soll das funktionieren mit sozialen Systemen, die darauf nicht eingestellt sind. Und wie soll das mit einer Denke funktionieren, die nicht auf Geschenke an Lebensqualität und Vitalität vorbereitet ist? – Apropos Denke: Hochnuanciert auch viele Artikel zur Künstlichen Intelligenz (KI), zur Gehirnforschung und der möglichen Kollision zwischen menschlicher und Maschinen-Intelligenz.

Klar wird in solchen Artikel, dass es so wichtig wie noch nie ist, sich mit der Zukunft auseinanderzusetzen. Kritisch und konstruktiv, skeptisch und begeisterungsfähig, visionär und rational, neugierig und gelassen. Vor allem weil die Zukunft noch nie so nah war wie heute. Da hat Robert Fripp recht. Allzu oft ist die Zukunft, auf die wir warten, längst schon Gegenwart. Vielleicht manchmal noch nicht hier bei uns. Aber da sollten wir dafür sorgen, dass das schleunigst passiert.

Ökonomie als Muppet-Show


Das Thema Wirtschaft darf man ernst nehmen, muss man aber nicht

Verstehe ich das richtig mit den Negativzinsen? Wenn ich mein Girokonto überziehe, bekomme ich Zinsen gutgeschrieben? Schließlich helfe ich den Banken, nicht auf ihren Negativzinsen sitzen zu bleiben. Denn das Schlimmste, habe ich gehört, was einer Bank heute passieren kann, ist es, wenn ein Mensch mit ganz viel Geld kommt und es bei der Bank deponieren will. Kein Wunder, dass da das Geld auf die Bahamas ausweicht. Dort scheint es noch willkommen zu sein. Oder die Briefkästen dort sind anonym und permissiver. Und das Wetter ist auch besser.

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Suchs Paket. Selbstausbeutung als Dienstleister.

Ein wenig darf man sich ja fast amüsieren über unsere zinslose Welt. Es entkrampft so. Plötzlich lösen sich die Zungen und auch die schweigsamsten Menschen geben inzwischen zu, viel Geld in der Finanzkrise verloren zu haben. Noch vor einem halben Jahr haben sie das noch strikt bestritten. Jetzt fällt es leicht, die Verluste zuzugeben. Ist ja eh wurscht. Man bekäme ja jetzt gar keine Zinsen mehr dafür. Oder gar noch Strafzinsen.

Überraschend, dass die AfD noch nicht die Zinslosigkeit für sich entdeckt hat. Ausgerechnet diese kruden Politiksimulatoren-Clique, die einst als Anti-Euro-Partei gestartet ist. Schließlich war es Allah selbst, der verboten hat, für Geld Zinsen zu nehmen. Also ist die Zinslosigkeit doch auch ein Stück Moslemisierung des Westens. – Zugegeben, die arabischen Staaten haben sich nie so recht an das Prinzip gehalten. Zinsen und Dividenden für ihre Ölmilliarden haben sie zumindest gerne kassiert.

Langsam macht sich Antiökonomismus breit

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Auch das Christentum hat es seinen Gläubigen lange verboten, Geld gegen Zinsen zu verleihen. Das führt dazu, dass dieses Geschäft einst einzig von Juden betrieben wurde. Mit den bekannten negativen gesellschaftlichen Nebenwirkungen. – Heute ist die Finanzbranche dabei, ähnlich unbeliebt zu werden. Von Antiökonomismus spricht allerdings noch keiner. Aber jetzt ist dieser Begriff endlich mal in der Welt. Wird sicher noch seine Verwendung finden.

Fakt ist. Geld wird nicht mehr gespart, sondern gleich ausgegeben. So spart man sich den Umweg übers Sparbuch. Und hat auch mehr davon. Die Konsumgüterindustrie freut sich. Nur der Handel nicht. Denn der bekommt vom Geldsegen nicht mehr viel ab. Also der stationäre Handel. Der versteht sich mittlerweile sowieso nur als Konsumgüter-Museum und verlangt Eintritt von Kunden, die sich „nur mal so umsehen wollen“. Um zu wissen, was sie dann online bestellen wollen.

Aus der Logistik wird Unlogistik

Der Onlinehandel boomt, die Versandlogistik brummt. Nein , es sind nicht die Lieferdrohnen, die uns drohen. Sondern die Paketdienste, die die Güter „ausliefern“. Oder gibt es inzwischen einen besseren Begriff für das Versteckspiel mit Konsumgütern, das da gespielt wird? Statt wie früher lange zu warten, bis der Postmitarbeiter das hinterlegte Paket im Lager gefunden hat, dürfen wir jetzt selbst in der Paketstation suchen, in dem das an der Haustüre nicht ausgelieferte Paket versteckt ist. Mein Vorschlag: Wir nennen das Unlogistik.

Apropos Selbstausbeutung. Das Gejammere, das wir viele Dienstleistungen, für die es früher Personal gab, selbst machen müssen, dürfte bald vorbei sein: Reisen buchen, Produkte selbst konfigurieren und bestellen (und abholen, s. o.), Mietwagen am Straßenrand suchen etc. Wir bekommen bald neues Personal, an das wir das delegieren können: Bots. Also kleine, virtuelle Helferlein, die wir rumkommandieren und die das tun, was wir wollen. Bots ist die Koseform von „Robotern“. Deutsch Roboterlein oder Roböttchen.

Die lieben Bots namens Siri oder Alexa

Die ersten gibt es ja schon. Teilweise üben sie noch, teilweise funktionieren sie schon. Sie hören auf so lieblichen Namen wie Siri oder einen vertrauten wie Alexa. Manche sind profan und springen zu Diensten, wenn man sie mit „Hallo Google“ anherrscht. (Fragt sich, wie lange man bei Robotern Herr im Haus ist.)

Kurios wird es, wenn die Helferlein aka Bots Familienmitglieder werden. Alexa etwa, bereits millionenfach in den USA verkauft, ist offiziell ein kabelloser Lautsprecher mit ausgefeilter Mikrofontechnik. Sie steht im Wohnzimmer oder der Küche und wartet auf ihren Einsatz. Bei manchen Menschen steht sie in wirklich jedem Zimmer. Nach einem kurzen „Hallo Alexa“ ist sie zu Diensten. Sie spielt auch Musik, wenn man ihnen es befiehlt. Aber lieber beantwortet sie Fragen, liest bei Bedarf Kochrezepte vor, und am liebsten bestellt sie, was man auch immer zu brauchen meint.

Immer präsent und Teil der Familie

Diese Bots sind wie einst die Haushaltshilfe oder das Zimmermädchen. Downtown Abbey für Arme sozusagen. Immer zu Diensten – aber sie bekommen auch alles lautstark mit, was so im häuslichen Leben geschieht. Mal sehen, wann den Geräten auch ein Streitschlichtungs-Algorithmus einprogrammiert wird. Oder noch lebensnaher: ein Intrigen-Generator.

Wie auch immer. Die Bots werden auf alle Fälle die nächste große Sache. Wenn Facebook, Microsoft und Amazon das wollen, wird das kommen. Und da werden Siri (Apple) und Google nicht tatenlos, ratlos und serviceunwillig abseits stehen. Im Gegenteil. Sie werden uns eifrig und sehr aktiv dabei helfen, Negativzinsen zu vermeiden. – Das Geld, das sie dabei verdienen, wird dann schon einen Weg auf einsame Zinsen-Eilande finden. Siri, Alexa & Co. sei Dank.

Wir schaffen das?


Die Welt wird ganz, ganz schlimm – oder eben nicht.

Jahreswechsel. Eigentlich ein guter Zeitpunkt, mal inne zu halten und ohne Ressentiment und Angst in die Zukunft zu blicken. Was wird die nächsten Jahre auf uns zu kommen? – Wir wissen darüber so viel wie schon lange nicht mehr. Es wird sich nämlich so ziemlich alles ändern. Alles. Wir stehen vor so vielen und drastischen Disruptionen wie kaum je zuvor.

constWir wissen nur nicht, was sich und wann genau es sich ändern wird. Und wie es sich ändern wird, ist noch offen. Und wohin es dabei geht, wissen wir auch nicht. Aber da könnten wir versuchen, ein wenig mit zu steuern. Oder anders formuliert: Wenn wir jetzt nicht anfangen uns darum zu kümmern, kann es wirklich sehr schlimm werden. Dann wüsste ich nicht, was ich den schlimmsten Dystopien der Pessimistologen entgegen setzen sollte.

Also kurz mal aufgelistet, was auf uns sicher zukommt. Zwei interessante Artikel dazu ist die technikgläubige Zukunftsprognose von Zukunftsoptimist Peter Diamandis und das Interview mit Klaus Schwab, Gründer und Chef des World Economic Forum in Davos, der sehr illusionslos die kommenden Veränderungen benennt.

Das absehbare Zukunfts-Szenario

Also, was wird auf uns zukommen? – Die Weltbevölkerung wird unweigerlich wachsen. Wenn es gut geht, auf 10 Milliarden Menschen. Aber es können auch 12 oder 15 Milliarden werden. Wir wissen längst, dass Wohlstand, Bildung und Gleichberechtigung die einzigen wirksamen „Verhütungsmittel“ sind. Also: Wohlstand, Bildung und Gleichberechtigung gerade für die Dritte Welt.

In unserer Welt wird es sehr voll werden. Und es wird sehr eng werden. Denn die meisten Menschen werden in Mega-Citys leben. Jeder weiß, wie viel Aggressionspotential in solch einer Situation steckt. Einziges Gegenmittel ist viel Empathie und Rücksichtnahme. Oder viel, sehr viel Kontrolle.

Wir stehen vor dem nächsten großen Sprung in die Digitalität. Wir und alle Dinge um uns herum werden unaufhörlich Daten generieren, die kontinuierlich gesammelt und ausgewertet werden. Die Algorithmen, die das tun, kennen wir nicht und verstehen sie auch nicht. Und wir sind nicht in der Lage, deren Ergebnisse zu kontrollieren, geschweige denn zu korrigieren. – Das müsste schleunigst geändert werden; Geschäftsgeheimnisse hin oder her.

Entwicklungen sind nicht aufzuhalten

Wir werden unweigerlich den gläsernen Menschen bekommen. Diese Entwicklung ist nicht aufzuhalten – wie so viele andere ebenso. Das ist die unabwendbare Folge der Digitalisierung und der damit verbundenen Datensammlerei – und unserem Bedürfnis nach immer bequemeren Services. Der Deal, Bezahlung von Services durch Daten, ist längst heimlich fix. Wir müssen nur noch klären, wie wir diese Tatsache verwalten und die nötigen Kontrollen effektiv gestalten. Wir werden alle Little Brothers – und entscheiden selbst, ob George Orwells Ängste Wirklichkeit werden.

Die Computer werden weiter immer schneller rechnen können. Immer schwerer wird es für uns, alle Folgen einer immer weiter um sich greifenden Digitalität zu verstehen und da irgendwie mitzuhalten. Eine Gesellschaft, die nur noch Spielball ist, hat verloren. Sie wird kapitulieren und sich nicht mehr als Gesellschaft verstehen und als Gesellschaft handeln.

Das Horror-Szenario: Eine Welt ohne Arbeit

Wir werden eine Welt voller Roboter bekommen. Nur Roboter garantieren die heute als unablässig erachtete Steigerung von Produktivität. 80 Prozent der Jobs, mit denen wir heute unser Geld verdienen, wird es in den nächsten 25 Jahren nicht mehr geben. Es werden Millionen von Menschen ohne (bezahlte) Arbeit da stehen. Dafür muss unser komplettes Lohn-, Steuer- und Rentensystem von Grund auf geändert werden. Nur eines von vielen Stichworten dazu: bedingungsloses Grundeinkommen.

Eine Welt ohne Arbeit ist eine völlig andere Welt. Eine Gesellschaft ohne Arbeit ist eine völlig andere Gesellschaft. Der Mittelstand löst sich auf. Er hat schlicht nichts mehr zu tun. Was aber dann? Werden die Menschen sich zu beschäftigen wissen? Wie sieht dann Wohlstand aus? Und wie lässt sich der Abgrund zwischen vielen Menschen mit wenig Geld und ganz wenigen mit ganz viel Reichtum erträglich gestalten? Es drohen sonst ungeheure soziale Spannungen.

Alle unsere gesellschaftlichen Institutionen und Errungenschaften stehen dann zur Disposition. Die wenigsten werden überleben. Und das nur, wenn sie sich an die neue Wirklichkeit anpassen. Ein digitalisiertes Gesundheitssystem wird zwar wirkliche Wunder bewirken können. Aber wie werden diese bezahlbar bleiben: personalisierte, intelligente Medikamente, Gentherapie, Zelltherapie, Krebstherapien, Immuntherapien, Psychobehandlung, personalisiertes Gesundheitscoaching, Funktionsmonitoring etc.?

Politik kann nicht (mehr) verändern

Wie soll unsere Politik solch krasse Veränderungen bewältigen? Politiker sind dafür weder geeicht noch ist unser politisches System auf Veränderung angelegt. Ganz im Gegenteil. Wie aber soll eine Gesellschaft im rapiden, disruptiven Wandel gemanagt werden? Wie soll eine Gesetzgebung aussehen, die diese Veränderungen bewältigt? Klaus Schulz etwa verlangt eine agile Gesetzgebung, also gleichsam sich automatisch anpassende Gesetze.

Und es werden viele Gesetze und Regelungen kontinuierlich geändert werden müssen. Das Finanzsystem muss gebändigt werden, das Steuersystem an die disruptiven Änderungen angepasst werden müssen – Stichworte: Produktivitätssteuer, Robotersteuer, Datensteuer, Prosperitätssteuer… Unser Sozialsystem muss nicht nur agil, sondern fluid auf die absehbaren Veränderungen reagieren: Überalterung, Arbeitsverluste, Zuwanderung, Grundeinkommen…

Vor allem aber wird die große Mehrheit der Menschen von den Veränderungen überfordert sein. Sie tut sich heute schon so schwer. Und heute erleben wir nur den ersten Hauch kommender Disruptionen. Wir erleben schon jetzt, wie Menschen ihre Unfähigkeit und ihr Unwillen, Änderungen zu akzeptieren und anzugehen, in Aggression und Verweigerung treibt – und in die Arme von Rechtspopulisten, die unverantwortlicherweise einfache Lösungen versprechen.

Wir brauchen ein Change-Management für unsere Gesellschaft

Wie soll das Change-Management für eine komplette Gesellschaft, für ein komplettes Staatssystem oder gar für hypernationale Systeme wie die Europäische Union aussehen, oder gar für eine Weltregierung? Wie muss dafür ein geeignetes Bildungssystem aussehen? Und eine Fortbildung für die Pädagogen, die Menschen (nicht nur Jugendliche) für solch ein System fähig machen sollen?

Und was tun mit all den Menschen, die noch nicht einmal in der Moderne oder unserer digitalen Wirklichkeit angekommen sind? Was ist mit der Zweiten und der Dritten Welt – und den Menschen die vor dort zu uns fliehen?

Es gibt keine einfachen Lösungen, das ist sicher. Aber man kann sich relativ gut auf die am meisten unterschätzten Fähigkeiten des Menschen verlassen: seine Ingenuität und seine Anpassungsfähigkeit. Aber beide dürfen nicht dauernd überstrapaziert werden. Wir lernen nicht am besten, wenn wir andauernd ins kalte Wasser geschmissen werden oder im Panikmodus handeln müssen.

Bei sich selbst anfangen

Besser wäre es, wenn wir all diesen Veränderungen ins Auge sehen. Wissend und mit Mut. Vielleicht sogar manchmal mit Vorfreude. Besser wäre es, wenn wir von Veränderungen nicht stets auf dem falschen Fuß erwischt werden, wenn wir agieren und nicht nur reagieren. Nur so hätten wir eine echte Chance, in etwa mitbestimmen zu können, wohin unser Weg geht.

Der derzeitige Modus des „alternativlosen“ Dahinwurstelns ist sicher falsch. Genauso das konsequente Wegsehen vor den kommenden Entwicklungen. Es wäre toll, eine Kanzlerin, meinetwegen auch einen Kanzler zu haben, der die Probleme der Zukunft klar benennt, der Ideen und Vorschläge für deren Bewältigung hat und dann wirkungsvoll Zuversicht ausstrahlt: „Wir schaffen das!“

Hilfe statt Hysterie

Aber nur auf die Politik hoffen, ist sicher allzu blauäugig. Jeder muss bei sich selbst anfangen. Ich habe mir angewöhnt, auf alle Änderungen und die begleitenden hysterischen Untergangsszenarien (der Medien u.a.) relaxt, emotionslos, gleich-gültig und neugierig zu reagieren. Klappt nicht immer, aber immer besser. Ich habe mir den analytischen Blick eines Insektenforschers angewöhnt, der die in seinem Schmetterlingsnetz gefangenen seltsamen und manchmal nicht hübschen Exemplare mit großem Interesse begutachtet.

Be-gut-achtet. Was ist gut? Was schlecht? Ich versuche anderen zu helfen, das Gute auch zu sehen und Ängste abzubauen. Mache Mut und helfe Schwellenängste abzubauen. Und bei Schlechtem versuche ich dagegen aktiv zu werden. Immer und überall. Aber ganz unhysterisch. Mit Argumenten und Perspektiven. Ist anstrengend – und funktioniert nicht immer. Aber nur so schaffen wir es, die neue Welt annehmbar, vielleicht sogar positiv zu gestalten.

Wir Flichtlinge


Von West nach Ost

Meine Familie ist ziemlich migrationserfahren. Im 17. Jahrhundert ging es für uns von Holland nach Pommern. Da gab es viele Feuchtgebiete trocken zu legen. Und das konnten wir Holländer damals besonders gut. Dort in Pommern holten wir uns auch unseren Namen: Konitzer. Die Stadt Konitz, mitten in Pommern, wurde später m Kaiserreich eine beliebte Sommerfrische für gestresste Berliner.

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Vater und Sohn in Reihenhaus-Idylle

Von dort ging es mit den Konitzers rund 100 Kilometer weiter nach Osten nach Neuenburg an der Weichsel. Eine Region, die häufig ihre Herrscher gewechselt hatte. Dort konnte man Integration üben, sprachlich und kulturell, ohne erst den Wohnsitz wechseln zu müssen. Mein Vater hatte positive Erinnerungen an diesen Kulturmix aus deutsch, polnisch und kaschubisch. Sein Leben lang liebte er es, beim Rasieren lauthals die polnische Nationalhymne zu singen. Natürlich auf polnisch.

Von Ost nach West

1920 musste unsere Familie dann aber wieder migrieren. Zwangsweise. Neuenburg lag damals auf der falschen Uferseite der Weichsel und war in den Reparationsverhandlungen nach dem 1. Weltkrieg Polen zugeschrieben worden und heißt seitdem Nowe. Für die Familie Konitzer ging es zurück nach Westen, nach Herne, mitten in den Ruhrpott. Mein Vater, Bruno Konitzer, war da gerade mal 16 Jahre alt.

Integration im Ruhrgebiet? Nur marginal, auf keinen Fall hörbar (Dialekt). Eine Zeit lang spielte mein Vater bei Westfalia Herne Fußball. Er blieb Fan des Vereins bis zum Lebensende. Aber schon bald zog es ihn wieder nach Osten, nach Berlin. Dort arbeitete er beim Deutschen Patentamt und erlebte die spannenden Zeiten Ende der frühen 30er-Jahre und die schlimmen der späteren 30er-Jahre.

Die Metropole lockt

Seine Frau freite Bruno Konitzer im tiefsten Schlesien. Eine Attraktion für die junge Braut Ursula war erklärtermaßen die Aussicht, die Provinz verlassen zu können und ins geliebte Berlin umzusiedeln. Leider nur für kurze Zeit. Dann kamen die Bomben, die Flucht heim nach Schlesien und von dort die Vertreibung. Es ging via Österreich ins dörfliche Hessen nach Kirtorf. Dort vereinigte sich die im Krieg zersplitterte Familie wieder.

Von dort ging es nach einem Abstecher ins westfälische Arnsberg nach München. Hier kam ich auf die Welt. Ich wuchs mit all den Erzählungen auf von Flucht, Todesangst und mieser Behandlung (in Tschechien und Österreich) und natürlich Verlust von Hab und Gut, von Schmuck und Erinnerungsstücken. Es wurde von Heimat erzählt, die weit weg – und nicht zu erreichen war.

Das Vielvölker-Projekt

So war ich damals ein Kind, das nicht so recht wusste, wo es hingehörte. Papa und Mama sprachen hochdeutsch, Oma schlesisch. „Wir Flichtlinge“ fingen viele Erzählungen von ihr an. Das Schlesische kennt kein „ü“, das „ü“ wird dort halbiert und „i“ gesprochen. (Und das „r“ verknödelt sich im Rachenraum zu einem gutturalen Urlaut.) So konservativ mein Vater politisch war, mit Vertriebenenverbänden und ihren Treffen wollte er nie etwas zu tun haben. Meine Mutter sowieso nicht.

Meine Integration nach Bayern fand dann in der Münchner Vorstadt, in Berg am Laim, statt. Eine neu erbaute Reihenhaussiedlung der katholischen Kirche war eine einzige große Integrationsmaßnahme. Unsere direkten Nachbarn waren „Einheimische“, also gebürtige Berg am Laimer, und dazu kamen Ostpreußen, Münchner, Sudetendeutsche, Oberschlesier, Regensburger, Banater Schwaben… – ach ja, aus der Pfalz und Sachsen kamen auch welche.

Christliche Mildherzigkeit

Der große Integrator in diesem Vielvölkergemisch war natürlich der christliche Glaube. So sehr man auch vom Nachbarn und seinen Eigenarten genervt war, man durfte es nicht zeigen, sondern hatte christliche Milde walten zu lassen. Aber Augen rollen durfte man, wenn der Hausputz-Perfektionismus der Nachbarin nervte. Oder anders herum, der schlampig gepflegte Garten missfiel. Meine Mutter lernte sogar zu ertragen, dass unser niederbayerischer Nachbar in seinem Garten ein Schrottlager eröffnete und seine Lokomotivführer-Pension mit seinem Schrotthandel aufbesserte.

Das war gelebte Toleranz. Immer öfter fanden dann immer längere Gespräche über den Zaun statt. Und frisch Gebackenes wurde am Sonntag hinüber- und herüber gereicht. So lernten die Bayern die Vorzüge schlesischer Backkunst kennen und wir typisch bayerische Backwaren. Wenn nur leiser Duft frisch gebackener Krapfen meiner Mutter den Weg ins Nachbarhaus fand, stand unweigerlich Minuten später unser Nachbar Paul in der Tür und flötete mit unwiderstehlichstem bayerischen Charme: „Mutter Ursula, was rieche ich da?“ – Es waren für den Zweck sowieso etliche Krapfen mehr gebacken worden.

Integration auf vier Rädern

Paul und seine liebe Frau Lotte und ihre beiden Söhne waren sowieso die aktivsten Integratoren. Sie kümmerten sich vor allem um meine Wenigkeit. Von ihnen lernte ich mein Bayrisch. Vor allem aber lernte ich bayerisches Land, Leute und Kultur kennen. Paul reiste als Seminarleiter – und Tenor – viel im bayerischen Land umher. Und wenn es passte, lugte sein Kopf kurz durch die Tür mit der Aufforderung: „Kommst mit, Michael?“ Und schon ging’s quer durchs bayerische Oberland.

So lernte ich schöne Kirchen kennen – und noch besser: wunderschöne Kirchenmusik in schönen Kirchen. Oder ich wurde zu Pauls Schwester, der Göde, mitgenommen. Dann verbrachte ich einige Tage in Halfing auf dem Land oder in Erl, ein paar Meter über die Grenze in Österreich. Da hörte ich im Passionsspielhaus das erste Mal die Wiener Sängerknaben. Ein Epiphanie-Erlebnis. Und ich lernte dort am Bauernhof auch Plumpsklos auszuhalten. Ich das Ete-petete-Kind meiner reinlichkeitsbesessenen Mutter.

Kultur mit Messer und Gabel

Mit Onkel Paul, wie er bald hieß – später wurde er auch mein Firmpate – lernte ich aber die viel wichtigere Kultur kennen: die bayerische Ess-Kultur, genauer gesagt, die Schmaus-Kultur. Ich erinnere mich noch immer an den kurzen Abstecher von Erl nach Innsbruck. Da gab es eines der Lieblingsgasthäuser von Onkel Paul. Und sein Lieblingsgericht dort war das so genannte „Appetit-Brot“. Meine Erinnerung malt mir dazu einen riesigen Berg an Leckereien auf einem riesigen Teller: Allerlei Wurst, Käse, Schmalz und dazu Radieserl, Radi, Gurkerl, Tomaten und… und… und. Und richtig, ganz drunten, nicht zu sehen, lagen wirklich zwei Scheiben Brot.

Ich lernte nicht nur solche kuriosen Spezialitäten, vor allem lernte ich das Genießen auf bayerische Art. Genießen auf schlesische Art kannte ich ja. Meine Mutter kochte und buk einfach zu gut. Über die Kombination von beidem bin ich bis heute froh. Und alle Menschen, die von mir bekocht werden.

Das Rezept für Integration auf der Langstrecke

Warum mir das alles gerade jetzt einfällt – und warum ich es gerade jetzt schreibe? Der Anlass war noch nie so naheliegend, wo wieder Tausende Flüchtlinge ins Land kommen. Wie schon so oft in Deutschland. Und immer haben wir Zuwanderung gut gemeistert. Zuletzt in den 90er-Jahren aus Ost-Deutschland. Und immer haben wir davon profitiert.

Ich habe das Erfolgsrezept gelungener Integration ja selbst erlebt. Ein Rezept, das auch auf der Langstrecke funktioniert: Ein Mix aus Toleranz und Milde gepaart mit einem klaren Standpunkt und klarem Wertekanon, ob nun christlich oder abendländisch. Dazu eine echte Begeisterung für die eigene Kultur, die dann authentisch weitergegeben werden kann. Dazu eine Neugier auf fremde Kultur. Kultur im weiten Sinn: von Musik, Theater, Literatur bis hin zu Festen, Kulinarik und Gebräuchen. Die schönsten Weihnachtsfeste waren die, die ich mit Griechen, Italienern und sonstwie Fremden gefeiert haben. Dieses Jahr mit Syrern?

 

 

 

Der Problemlösungs-Kolonialismus


Die Besser-Deutschen

Südtirol. Ein heißer Sommertag. Drückende Hitze. Im Schatten der Säulengänge sitzt ein Paar im Café. Er Deutscher, genauer gesagt Hesse. Unverkennbar der Dialekt. Sie Italienerin, wahrscheinlich Südtirolerin, soweit man aus ihrem Deutsch schließen kann. Eine intensive Debatte.

Er, der Hesse erklärt ihr, der Italienerin, warum Italien nicht funktioniert. Warum es nicht funktionieren kann.  Sie gibt zu, dass in Italien so Manches im Argen liegt. Aber seine Thesen zu den Ursachen überzeugen sie nicht. Sie vermutet andere Gründe. Aber nein, der Hesse weiß es besser. Aber seine Argumente werden nicht besser, wenn er sie – lauter – wiederholt.

Flughafen Shanghai
Flughafen Shanghai

Eine Zeitlang ist das wie Kabarett, wenn man vom Nebentisch aus zuhört. Wir grinsen in uns hinein, weil die Situation so absurd ist. Der Hesse wird mit der Zeit immer aggressiver, wenn ihm widersprochen wird. Denn seine Vorschläge, wie es in Italien besser laufen könnte, funktionieren garantiert. Wenn man ihn nur machen ließe.

Tropfende Wasserhähne

Wenn er meint, die Italiener sind faul, dann stellt seine Gesprächspartnerin richtig: Italiener sind gut im Aufbauen, aber sehr schlecht im Pflegen von Dingen. Stimmt, das haben wir auch schon oft festgestellt. Beispiel: Flughafen Ancona. Ganz neues, modernes Gebäude, schöne Architektur. Aber in den Toiletten tropfen unentwegt die Wasserhähne, allesamt.

Statt sie zu reparieren, wird um die Wasserhähne sorgfältig Toilettenpapier drapiert. Apropos Italiener und Faulheit. Da steckt eine Menge Fleiß drin, jeden Tag die nassen Papierfetzen zu entfernen und adrett neue Manschetten um die Wasserhähne zu legen. Und das über eine lange Zeit, wie wir Jahr für Jahr konstatieren konnten.

Es ist die Sichtweise von uns deutschen Perfektionisten, die uns im Weg steht, solche Lösungen wertzuschätzen. Die säuberlich arrangierten Papiermanschetten rund um die Wasserhähne sind ein eleganter Hinweis, dass die Toilette täglich mehrmals inspiziert und gesäubert wird. Denn ehe die Papiere nass und unansehnlich werden, sind sie ja schon ausgetauscht.

Alles viel zu kontrollig

Wir behelfen uns hierzulande mit Kontrolltafeln, in denen das Toilettenpersonal seine Anwesenheit per Unterschrift dokumentiert. Auch nicht hübsch. Und so kontrollig. In Italien nutzt man tropfende Wasserhähne für den Anwesenheitsnachweis. Auch nur bedingt hübsch. Aber irgendwie eleganter. Ein Installateur, der die Wasserhähne abdichtet, würde das Arrangement nur stören.

Eine komplett andere Sichtweise eines anderen Landes, einer anderen Kultur, ist immer wieder ein Geschenk, das man zu genießen lernen muss. Beispiel China, Flughafen Shanghai. Schauplatz wieder eine öffentliche Toilette, kurz vor Dienstschluss. Beim Betreten ist der Boden mit Massen von Papierhandtüchern übersät. Der Toilettenreiniger nutzt alle weggeworfenen Papierhandtücher, um damit sauber raus zu wischen. Recycling und Ressourcenschonung at it’s best.

Als Wiedergutmachung für meine kurzzeitige Irritation über die Situation bekomme ich mein Papierhandtuch vom Toilettenreiniger persönlich aus dem Automaten gereicht, stilgerecht mit einer tiefen Verneigung. Mein Versuch, mit einem Trinkgeld zu danken, wird entrüstet abgelehnt. – Danke für diese nette außergewöhnliche Erfahrung.

Andere Länder, andere Lösungen

Um im asiatischen Kulturraum zu bleiben. Vor Jahren fragte ein japanischer Referentenkollege in seinem Vortrag nach der optimalen Lösung für folgende Konfliktsituation: Ein Kunde kommt in ein Geschäft – und will für ein Produkt einen Preisnachlass. Sein Argument: Im Konkurrenzgeschäft gleich um die Ecke sei das Produkt billiger. Was also tun? – Großes Rätselraten unter den anwesenden – deutschen und österreichischen – Marketeers.

Die Lösung: ganz einfach. Den Kunden kurz um Geduld bitten, losgehen, das Produkt zum billigeren Preis im Geschäft um die Ecke erstehen, dem Kunden bringen – und zum geringeren Preis verkaufen. So bringt man glaubhaft Kundenorientierung rüber. Großes Staunen, großer Beifall. Leider habe ich bis heute niemanden getroffen, der sich hierzulande solche japanische Kundenverwöhnung angewöhnt hat. – Schade auch.

Noch mal anders, ganz anders, in Afrika. Im Spiegel (Printausgabe 31/2015) erzählen Hauke Goos und Bernhard Riedmann in ihrer Afrikareportage einen wirklich kreativen Lösungsansatz, der uns vorführt, welche Lösungsarmut bei uns herrscht. Die Aufgabe: Die Grenze zwischen Ghana und Burkina Faso ist nachts wieder mal geschlossen. Auch Zöllner wollen ja mal Feierabend haben. Ein Geschäftsmann muss aber noch seinen Flieger in Burkina Faso am nächsten Morgen erreichen.

Unser Lösungs-Kolonialismus

Die Zöllner zu überreden, die Grenze für ihn aufzumachen: keine Chance. Die Lösung: Er erzählt den Grenzern, dass er noch einen wichtigen Termin hat, er noch tanken müsse, aber das Geld dafür nicht reicht. Die Beamten helfen gerne, jeder gibt ein bisschen was, das Geld ist schließlich zusammen. Alle freuen sich.

Bleibt das Problem, dass ein voller Tank bei geschlossener Grenze nicht viel nützt. Das leuchtet den Grenzbeamten ein. Also öffnen sie kurzerhand die Grenze, winken den Wagen freundlich durch und wünschen eine gute Reise. Eine afrikanische Win-Win-Situation.

Irgend so etwas Kreatives hätte den Politikern bei den Verhandlungen zur Griechenlandkrise einfallen sollen. Dann hätten wir heute ein Problem weniger – oder sehr viel weniger. Das Problem der globalisierten Politik ist, dass eine große Lösungs- und Ideenarmut herrscht.

Und ein Lösungs- und Ideenkolonialismus. Oder -Imperialismus. Es gibt immer nur eine Art, Konflikte zu lösen. Unsere Art. Und meist nur die, die sowieso noch nie funktioniert hat. Aber mit ihr ist man auf der sicheren Seite. Sie funktioniert garantiert nicht. Bei alternativen Lösungen weiß man das nicht so genau. Und Risiken, die mögen sie nun mal gar nicht, unsere Banker und Politiker.