Storytelling & Mythen


Was ist Journalismus heute? Und was Storytelling?

Jeff Jarvis, Medien-Vordenker, -Quertreiber und Kongress-Talisman, hat in seinem (stets lesenswerten) Blog BuzzMachine.com den Journalismus neu zu definieren versucht. Anders als das Gros der Journalisten sieht er in gutem Journalismus nicht nur ein perfektes Storytelling, sondern eine Unmenge neuer Aufgabenfelder. Das geht bei ihm über das intelligente Sammeln und Aufbereiten von Daten über Herstellen und Betreuung von Kommunikationsplattformen und Organisation von Crowdsourcing und Betreuung von Wissen (Wikipedia) bis hin zur Erstellung von sinnvollen Algorithmen, die Informationen aufbereiten und einordnen etc.

Diese Liste ließe sich noch sinnvoll erweitern, wenn man einen Blick in die Zukunft wagt. Journalismus bedeutet künftig auch das Erstellen von Story-Drehbüchern, also die multimediale, mal pädagogische und/oder spannende Inszenierung einer Information oder Geschichte. Will man in einer iPad-Version Mehrwert erzeugen, ist das unabdingbar! Auch die Organisation und Betreuung eines Hyperlocal-Services, einem Lokaljournalismus aus Eigeninitiative und die Kuratierung von Texten von User-Content werden in Zukunft Journalismus sein. Alles nicht so glamourös, wie es gerne in Journalistenschulen verkauft wird. Aber damit wird in Zukunft durchaus Geld verdient werden können, sollte man es nicht soweit schaffen, als Edelfeder zu einer eigenen, starken Autoren-Marke zu werden/werden zu wollen.

Storytelling als Ego-Trip

Das Storytelling, das Verdichten einer Geschichte zu einer Geschichte, sieht Jeff Jarvis als nur eine mögliche Aufgabe des Journalisten, und er sieht sie relativ kritisch. Zitat – frei übersetzt: „Als Erzähler einer Geschichte stellt sich der Erzähler in den Mittelpunkt, er reißt die Geschichte an sich. Das ist meine Story! Und ich entscheide, wie sie geht und erzähle sie auf meine Weise. Der Erzähler einer Geschichte übt über sie Kontrolle aus. Und es herrscht die Einbahnstraße vom Produzenten zum Rezipienten.“

So ganz falsch liegt Jarvis mit seiner Einschätzung nicht, vor allem wenn man die Selbstreflexionen der Journalisten – vor allem in der Auseinandersetzung mit dem bösen Konkurrenten Internet und speziell der Blogger-Gemeinde – sieht. Aber bei aller sinnvollen Kritik daran übersieht er ein wichtiges und vielleicht das älteste Merkmal des Storytelling, deutsch: des  Geschichtenerzählens, altdeutsch: der Moritat.

Empathie und Mythos

Wirklich gute, und gut erzählte Geschichten bringen Situationen, Stimmungen, Bedürfnisse, Emotionen, ja auch Zeitgeist so gut auf den Punkt, dass sie ihnen den Grauschleier des Unbewussten entreißen und es so wirksam machen. Sie wecken Emotionen und Erkenntnis und/oder machen sie bewusst. So entsteht dieses Wundern über einen selbst – oder die Gesellschaft oder bestimmte Phänomene, die einen berühren, ja bis zur Gänsehaut (positiv oder negativ) führen. So entsteht Empathie, so entstehen aber auch Wut und Trauer, was oft die wesentlichen Ingredienzien sind, will man etwas (einen Missstand o. ä.) ändern.

Einzug ins Ur-Gedächtnis

Wirklich gut erzählte, extraordinäre Geschichten sind im besten Fall so weit verdichtet, dass sie sich in unserem Bewusstsein festsetzen. Sie sind sozusagen das Gleitmittel, das es ermöglicht, dass Erkenntnis oder Gefühl in den begrenzten Raum unseres Langzeitgedächtnisses und unseres innersten Meme-Reservoires schaffen. So entstehen im besten Fall positive Pendants zu all den Traumata, die das Leben für uns bereit hält. So entstehen Mythen, die es bis in unser allerinnerstes Gedächtnis, das Ur-Gehirn, schaffen.

Ich bin noch heute meinem Vater so dankbar, dass er mir als Kind am Bett zum Einschlafen nicht Märchen oder Kindergeschichten vorlas, nein er erzählte mir frei aus seiner Erinnerung heraus die wilden Geschichten des Odysseus, die er auf seiner ewig langen Fahrt von Troja nach Hause zu seiner ihn liebenden Frau erlebte. Die Sirenen, die Nymphe Kalypso, den Riesen Polyphem, Skylla und Charybdis etc. Diese Geschichten sind mir bis heute lebendig vor Augen. Wahrscheinlich habe ich sie nach dem Einschlafen auch noch weitergeträumt.

Die Moritat von der Geschicht‘

Unser Bewusstsein ist voll von Mythen. Es ist die Essenz von unzähligen Geschichten, die sich die Menschheit über Jahrtausende immer weiter erzählt hat. Von Naturkatastrophen (Arche Noah), von Kriegen und Not, von Liebe und Lust, von Entdeckung von Unbekanntemn (Odyssee), von Hoffnungen und Siegen, von Dämonen und bösen Kräften (Herr der Ringe). Wir wissen heute, dass Großteile unseres Verhaltens letztendlich von diesem mythischen Innersten bestimmt werden. Um so wichtiger ist es, unser mythisches Gedächtnis von den schlimmsten und finstersten Relikten zu reinigen, etwa der Urangst und all den Dämonen einer naturreligiösen Zeit. Das geht aber nur, indem wir neue, zeitgemäße und – wenn es geht – positive Mythen hier einpflanzen.

Das ist aber nur mit wirklich neuen Geschichten möglich, die uns im Innersten anrühren. Das funktioniert nur mit perfekt erzählten Geschichten. Und dabei helfen kein iPad, kein Algorithmus und keine Datenbank weiter. Da hilft nur bestes Storytelling. Und gute Storyteller. Jarvis hat recht, wenn er bemerkt, dass Geschichtenerzähler Geschichten an sich reißen, aber dafür steckt dann auch ihr Herzblut drin. Die Moritat von der Geschicht‘: wir brauchen mehr Moritaten – und Moritatensänger. – Gerade auch im Internet.

Emotionen in Bits & Bytes 1


Lachen & weinen im Internet

Ich habe eine kleine, unerwartete körperliche Sensation erlebt. Am Bildschirm. Ich bin beim Lesen einer Email rot geworden. Im Gesicht. Nicht rot vor Wut. Nicht rot aus Scham. Na ja, der schöne Mix aus Scham und Stolz war es. Ich habe solch eine anrührende und für mich schöne Mail-Replik gelesen, dass mir doch tatsächlich ganz warm im Gesicht geworden ist. Es war das erste Mal, dass ich vor dem Bildschirm rot angelaufen bin.

Damit habe ich so ziemlich die komplette Palette menschlicher Emotionen am Bildschirm erlebt. Mir sind schon Tränen in die Augen geschossen. Damals in den Foren, in denen es nach dem 11. September darum ging, irgendwie den Schock dieses monströsen Anschlages zu verarbeiten. Da gab es wirklich anrührende Textbeiträge. Oder ein andermal ging es um Folter und Verfolgung in Dafur. Die Geschichten waren so eindringlich und authentisch, dass man sich seiner Tränen dafür nicht schämen musste.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich das erste Mal vor dem Bildschirm laut gelacht habe. Das war zum Beispiel bei dem ernsten jungen Mann, der durch das Zusammendrücken seiner Hände Prust-Geräusche  entlang der kompletten Tonleiter produzieren konnte und auf diese Weise die so komplexe „Bohemian Rhapsody“ von Queen – na, nennen wir es mal so: intonierte. Und das miesepetrige, traurige Gesicht des Künstlers dazu. Absurdistan lässt grüßen…

Lachen am Bildschirm ist nicht leicht. Am leichtesten fällt lauthalses Gelächter im Kino, im Chor mit vielen anderen Lachenden. Und wenn dann noch ein Mensch mit ansteckender Lache dabei ist, ist das Zwerchfell schwer gefährdet. (Wann entdeckt die Pharma-Industrie eigentlich diesen Ansteckungsherd? Vielleicht kann man auch dagegen – oder dafür? – eine Spritze entwickeln und per Krankenkassen finanzieren lassen. Schweine-Lache sozusagen…)

Lachen vor dem Bildschirm

Am heimischen Bildschirm laut heraus zu lachen, fällt schon schwerer. Da muss der Gag massiv oder besonders absurd kommen. (Das gelingt Harald Schmidt schon lange nicht mehr richtig!) Oder man hat neben sich einen Menschen sitzen, der einen Hang zum therapeutischen Lachen hat und einfach jede Gelegenheit zur Zwerchfellmassage nutzt. Auch das ist wunderbar ansteckend. Die ganz hohe Schule des monomanischen Lachens ist aber der PC-Bildschirm. Wer einen dort zum prustenden Lachen bringt, der muss schon sehr gut sein.

Ach ja, Wut und Zorn habe ich wohl am häufigsten und frühesten am Bildschirm erlebt. All die bösen Emails, die zu unüberlegt geschickt wurden, die besser einen Tag abhängen hätten sollen, bevor sie – wenn überhaupt – in emotionsärmerer Version auf den Weg geschickt wurden. Wie viel Adrenalin ist dabei unnötig freigesetzt worden!

Adrenalin per (Wut-)Email

Die kurioseste Episode zum Thema Wut-Email stammt aus meiner Zeit, als ich viel für englische Firmen gearbeitet habe. Nach einem zweitägigen Marathon-Meeting habe ich versucht, die mühsam erzielten Übereinkünfte per Email-Protokoll festzuhalten. Der Effekt: eine der wütendsten Email-Repliken, an die ich mich erinnern kann. Tenor der Philippika: du willst doch nur in ein paar Wochen anhand der Email abhaken, was nicht umgesetzt worden ist. – Genau das war die Absicht. Und genau das hat den Wutausbruch initiiert. Man konnte sich so mal nicht mehr auf das sonst übliche „misunderstanding“ hinausreden. (Das nur zur Krise der britischen Wirtschaft.)

Emotionen im Internet. Ein Stiefkind, wenn es um die Bewertung von Websites geht. Dabei ist das die wesentliche Frage, wie gut Digitale Medien so weit kommen werden, Emotionen zu transportieren und/oder Emotionen zu wecken. Clickraten, Unique User und Conversions in Ehren. Jetzt geht es darum, dass Digitale Medien reif genug werden, auch emotionale Werte zu transportieren und so auch bei Markenbildung und Markenpositionierung zu funktionieren. Das geht sicher mit einer gelungenen Einbindung von Videos und Animationen. Vor allem aber mit einem effektvollen Storytelling quer über sämtliche Digitalen Plattformen und Formate hinweg.