Trubel im Status Quo


Nein zur Winter-Olympiade 2022 in München

Also jetzt keine Olympiade in München. Das Volk wurde befragt und hat es nicht gewollt. Ich hätte schon wollen. Meine Erinnerungen an die Olympiade 1972 waren einfach zu positiv. Das war ein Erweckungserlebnis für die kleine süddeutsche Stadt vor den Alpen. Aus einer zu groß gewordenen Kleinstadt wurde eine Großstadt. Und Flair gab es gratis dazu. Und Sportstätten und eine Infrastruktur, von der wir bis heute hier in München profitieren.

Nolympia01Aber ich verstehe die Gegner dieses Sportspektakels. Muss ich ja. Zu viele Gegner gibt es in meinem Freundeskreis bis hin zur eigenen Ehefrau. Keine erbitterten Gegner, sondern eher spontane Nein-Sager, die kurz und bestimmt ihr „Jetzt-ist-es-aber-genug!“ zum Ausdruck bringen. Da verfangen bemühte – und zugegebenermaßen oft recht verlogene – rationale Argumente für Olympia kaum: neue Sportstätten, bessere Infrastruktur, mehr Image, mehr Bekanntheit in der Welt, blablabla… Da taten sich die Gegner der Olympiade 2022 in München so viel leichter. Sie hatten verfängliche Argumente: Naturzerstörung, Kommerz, Preissteigerung, Gigantomanismus – und sie wirkten alle gleich auch noch wunderbar emotional. (Doof waren sie oft trotzdem…)

IOC, FIFA & Co. sind bäh!

So weit, so gut. Wir könnten wieder zur Tagesordnung übergehen. Dann halt Olympia in Oslo. Denen Olympia zu gönnen tut sich keiner schwer. Die haben sich in einer Volksabstimmung ja nun mal FÜR Olympia entschieden. Aber wer weiß, vielleicht bewirbt sich ja auf den letzten Drücker doch auch noch Katar für die Winterolympiade. Dann wären die beiden Winterereignisse des Jahres 2022 gleich in einer Hand: die Fußball-WM und die Winterolympiade. Das hätte viele Vorteile. Die Kamerateams wären schon vor Ort. Man könnte die Anfangszeiten der Fußball-Spiele und der Winter-Events wunderbar dramaturgisch aufeinander abstimmen. Und Ablaufstörungen bei der Olympiade durch Schneefall, Nebel oder Stürme wären nicht zu erwarten. Und es gäbe kein Problem mit zu wenig Schnee, denn der wäre per se nicht vorhanden…

So absurd solch eine Vorstellung ist. So ganz kann man eine derartige Entwicklung in Anbetracht der Verfassung der maßgeblichen Sportverbände FIFA und IOC nicht ausschließen. Das Nein zur Olympiade in München ist eben auch ein Nein zur gesamten Funktionärsgilde, die heute mit immer neuen Eskapaden durch die Medien geistert. Es ist ein Nein zur schmierigen Biegsamkeit eines – noch dazu deutschen IOC-Präsidenten Thomas Bach. Es ist ein Nein zum alerten und völlig unauthentischen Profi-Funktionär Michael Vesper.

Politik einst und jetzt

Meine so positiven Erinnerungen an eine wunderschöne Zeit zur Olympiade in München schließt ja auch eine breite Begeisterung der Bevölkerung für Olympiade ein. Die haben so seriöse, ernsthafte und authentische Menschen wie ein Sport- und Organisationschef Willi Daume und ein Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel vermittelt. Beide waren Gesinnungstäter für Olympia und für München – und für eine offene Gesellschaft. Bei ihnen war man sich sicher, dass sie im Namen und zum Wohle der Bürger handelten und keine Lobby-Schergen waren. Das Ergebnis war eine Begeisterung quer durch alle Schichten inklusive der Kulturschaffenden und Designer etc.

Und die Politik heute? Die war pflichtbewusst FÜR Olympia. Nur Grüne und die Linke opponierten. Aber wie sah die Unterstützung aus? Bestenfalls pflichtbewusst. In Pflicht nahmen eben Verbände und die Lobby. Vision? Null. Idee? Null. Begeisterung? Kaum wahrnehmbar. Entsprechend hölzern wirkte die Unterstützung und entsprechend krachend hat der abstimmende Souverän den Politikern, die sich zu nichts zu schade sind, die rote Karte gezeigt. Kam hinzu, dass man nach dem pflichtbewusst braven Abstimmungsverhalten für CSU und Merkel zuletzt bei Land- und Bundestagswahlen hier in Bayern mit großer Lust die Chance wahrnahm, es Seehofer & Co. mal wieder richtig zu zeigen. Schließlich ging es diesmal um nichts. Nur um Olympia…

Die Trennung von Politik und Leben

Bezeichnend aber die Reaktion der Befürworter von Olympia und der Politik. Sie waren bass erstaunt über die Niederlage, sie hatten sich tatsächlich in Sicherheit gewogen. Wir müssen nur pflichtschuldig dafür sein und die Sportverbände dazu, dann wird der Bürger schon brav dafür sein. Es scheint kein Sensorium in der Funktionärs- und Politikerkaste mehr zu geben, das Ermüdungserscheinungen und Ekelgefühle gegen einen Sport-Hyperkapitalismus wahrnimmt. Das fällt in den VIP-Logen auch schwer. Dabei wäre ein Blick auf den nun vorbestraften Karl-Heinz Rummenigge und den Steuersünder Uli Hoeneß und auf die laue und maue Fankultur beim dauergewinnenden FC Bayern durchaus lohnenswert. Nicht einmal Stimmungs-Sensibelchen Horst Seehofer scheint da was gemerkt zu haben.

Ach ja, und Franz Beckenbauer, der Alles-möglich-Macher musste diesmal als Werbefrontakteur seine erste Niederlage einstecken. Entsprechend verstockt fiel seine Reaktion darauf aus. Er, der in Katar keine Sklaven in Ketten und Fesseln gesehen hat und daher dort alles in Ordnung fand (siehe Video ab Minute 4:56), ist halt einfach schon viel zu lange in zu vielen internationalen Fußballgremien und -verbänden unterwegs, um noch einen klaren Blick auf Realitäten haben zu können. Denn dann hätte ihm schon mal auffallen müssen, wie inhaltsleer, billig und handwerklich schlecht gemacht die komplette Kampagne „Oja22“ für die Olympiade war. Da war das Zitat des Farbdesigns von Olympia-1972-Designer Otl Aicher eher Hohn.

Der Saturierten-Gürtel Münchens

Dabei wäre es genau darum gegangen, die abstimmenden Bürger für eine neuerliche Olympiade, diesmal im Winter, zu begeistern. Keine leichte Aufgabe, zugegeben. In München gibt es für den sich in seinen Wohlstands-Ritualen schnell gestörten Saturations-Münchner genug Großereignisse und Events. Neuer Höhepunkt 2014: Black Sabbath live auf dem Königsplatz!? Da lehnt man schon fast reflexhaft jede Neuerung und jede vermeintliche neue Irritation ab. Da greift schnell der Saturierten-Narzissmus-Reflex. Du sollst keine (neuen) Helden neben mir haben.

Es ist schon bezeichnend, wenn man sich ansieht, welche Stadtteile Münchens am energischsten gegen die Olympiade gestimmt haben. Nicht die schnöden und mietpreismäßig etwas gemäßigten Stadtteile der Außenbezirke. Die hätten die fünf Ringe gerne in der Stadt gehabt. Es waren die südlichen Stadtteile mit den teuersten Mieten entlang der Isar, in der Innenstadt und in Schwabing, die am energischsten gegen die Olympiade gestimmt haben. Der typische Saturierten-Gürtel der Stadt. Bezeichnenderweise der typische Home-Turf von Münchens Bald-Ex-Bürgermeister Christian Ude.

Den Frieden mit der Ablehnung der Olympiade in München habe ich längst gemacht. Spätestens seit ich in meiner Facebook-Timeline mitbekommen habe, welch ur-anarchistische Freude viele Münchner an der Niederlage der Großkopferten und der politischen Gschwollschädel haben. So gesehen war die Abstimmung der perfekte Anlass, diese Deppen mal so richtig und wirksam zu derblecken. Wie gut das gelungen ist, zeigt die Reaktion der Olympiapromotoren. Sie benehmen sich stilgemäß als beleidigte Leberwürste. Die traurige Diagnose: nichts kapiert. Rein gar nichts. Und genau das ist das Problem…

Unkartiertes Neuland


Projekte wagen, die (noch) nicht möglich sind

Vor ein paar Jahren sah ich bei Freunden an der Wand eines Büros ein riesig dimensioniertes Modell eines großen Sportstadions hängen. Es stellte sich heraus, dass der Vater der Freundin bei der Ausschreibung für das Stadion für die Olympischen Spiele 1972 in München teilgenommen hatte. Das Modell an der Wand war sein Entwurf gewesen. Aus Höflichkeit nur so viel. Wir dürfen froh sein, dass nicht dieser Entwurf genommen wurde, sondern der mutige Zeltdachentwurf von Frei Otto.

Olympiastadion München - Die Realisierung

Ich habe mir später auch andere Entwürfe von damals angesehen, zum Beispiel das Modell, mit dem sich München 1966 (erfolgreich!) beworben hatte -langweilig und uninspiriert (siehe Foto). – Was haben wir damals in München für mutige, ja tollkühne Entscheider gehabt! Sie haben sich für die schönste, aber optisch und technisch riskanteste Lösung entschieden. Noch nie zuvor war eine Zeltdachkonstruktion aus Stahlseilen und Acrylplatten in dieser Dimension gewagt worden. Von diesem Mut profitiert München noch heute. Der Olympiapark ist weltbekannt und im Gegensatz zu anderen großen Sportstadien eine städtebauliche Attraktion, auch 40 Jahre nach seiner Eröffnung.

Planen mit nicht vorhandenem Material

Ähnlich viel Mut wurde beim Bau der Allianz Arena bewiesen, dem neuen, allabendlich weithin leuchtenden Wahrzeichen des Münchner Nordens. Als dieses Stadion in seinem speziellen Design beschlossen wurde, gab es die luminiszierenden, pneumatisch vorgespannten Kissen aus EFTE-Folie, die heute die Außenhaut der Arena bilden, noch nicht. Das Prinzip wurde erst im Laufe des Baus entwickelt.

Wenn es um Bauten geht, um mechanische Geräte oder um Maschinen (speziell Autos), dann sind wir mutig in Deutschland. Auch wenn es um kreative Nutzung von Elektrizität oder Chemie geht – bis hin zur Fahrlässigkeit. Nur wenn es um nicht greifbare, nicht haptisch fassbare Dinge geht, verlässt uns der Mut so schnell und so komplett. Deswegen spielt Deutschland im Bereich der Computer und der Software längst keine wichtige Rolle mehr. Und im Internet und seinem Business ebensowenig.

Olympiastadion München - Entwurf 1966

Fluchtpunkt Physikalität

Unser Fluchtpunkt, wenn es um nicht handfeste Dinge geht, also um Software, um digitale Produkte oder gar virtuelle, ist immer die Flucht ins Physikalische, zum realen Produkt: Da werden Onlinehandelsplätze zu Piazzas – oder es wird gar die altgriechische Agora als Metapher für einen Marktplatz bemüht. Da werden Datenspeicher zu Tresoren oder Bildspeicher zu Fotoalben. Oder neueste Peinlichkeit: Eine Löschfunktion für Bilder wird zum „digitalen Radiergummi“.

[Kleiner Exkurs hier. Dem Erfinder Prof. Michael Backes aus Saarbrücken gehört ein Ehrenplatz bei der nächsten Documenta. Die Idee, dafür Geld zahlen zu müssen, dass sich ins Internet gestellte Bilder irgendwann selbst löschen (wenn es denn funktioniert), zeugt von seltener Ignoranz – oder großer künstlerischen Chuzpe. Kunst, die sich selbst zerstört, war eine der provokativen Ideen des Dadaismus. Das jetzt kommerziell zu vermarkten, könnte interessant und witzig sein, wenn es nicht bierernst gemeint wäre. So ist es nur peinlich und traurig.]

Begreifen und Bedenken

Was treibt uns, dass wir Dinge unbedingt „begreifen“ wollen. Und wenn das nicht möglich ist, dass uns gleich „Bedenken“ kommen. Was ist das für eine risikoarme Kultur, eine Zöger- und Hader-Kultur, die solange nicht aktiv wird, bis die letzten Wagnisse ausgeräumt sind? Die Neuland nur dann zu betreten wagt, wenn sich zuvor schon Massen anderer hinein gewagt haben. Und dann wundert man sich, dass diese längst Claims abgesteckt und das neue Areal unter sich aufgeteilt haben. Und zwar zu ihren Bedingungen.

Ich hatte in meinem Leben mehrmals die „wundersame“ – und wunderschöne – Gelegenheit, etwas völlig Neues schaffen zu dürfen/können. Meist ohne ein Vorbild, das man hätte nachahmen können und immer unter extremem Zeitdruck.

Neues wagen

Die Münchner Stadtzeitung etwa, die post-ideologisch die Interessen einer jungen Stadtbevölkerung reflektierte. Wir haben sie im Team mit wunderbaren Kollegen und einem tollkühnen Verleger (Arno Hess) einfach „gemacht“, ohne vorher viel zu planen oder gar Marktstudien zu betreiben. Dafür war weder Geld noch Zeit da. Und weil wir es wagten, wurde sie erfolgreich, wuchs zusammen mit ihren Lesern und unserem (meist autodidaktisch durch Try & Error erworbenen) Können. – Dasselbe dann auch beim WIENER. Auch hier wurde – nicht zuletzt dank Chefredakteur Wolfgang Maier – gewagt und nicht gezaudert.

Noch extremer war das Projekt Europe Online: ein Onlinedienst in Deutschland, der nicht ein amerikanisches Vorbild kopieren sollte. Als die Entscheidung gefallen war, dass wir statt auf eine proprietäre Software und ein geschlossenes System a là AOL auf die offene Internet-Platform von HTML und offen zugängliche Inhalte setzten, waren gerade noch sechs Wochen Zeit, alles neu von Null an aufzusetzen, technisch wie inhaltlich. Keiner wusste, wie das gehen sollte. Es gab genug, die hielten das für unmöglich – und handelten danach. Und trotzdem waren wir pünktlich fertig und online – zu Weihnachten 1995.

Evolution schafft Neues

Das alles funktionierte nur mit einer Zuversicht, die sich aus der Erfahrung nährte, dass sich Wege finden, wenn man nur wagt. Es gibt eben auch positive Selffulfilling-Prozesse. Wenn man an etwas glaubt, dann kann man, zumal wenn man zuvor ein wenig nachgedacht hat, viel bewirken. Man muss es dann nur machen. Warum ist Facebook so erfolgreich und das deutsche Copycat StudiVZ nicht? Weil Mark Zuckerberg & Co. eine Idee hatten und im Prozess des Schaffens davon profitiert und so kontinuierlich dazugelernt haben. Das passiert denen, die wagen, aber nicht denen, die nur kopieren. Diese erleben nie das Momentum des Wagenden, diese kommen nie in den Schaffens-Flow dessen, der Risiken eingeht und loslegt.

Man kapiert in Deutschland – oder auch Europa – eben nicht, wie man ein neues Projekt starten kann, ohne einen nach allen Seiten abgesicherten Businessplan zu haben. Der ergibt sich aber aus dem Erfolg, der Verbreitung und den im Prozess des Schaffens gemachten Ideen und Erfahrungen. Außerdem sind nur Projekte, in denen etwas Neues gewagt wird, für wirklich kreative, innovativ denkende Menschen attraktiv. Sie sorgen dann mit ihrer Ingenuität schon dafür, dass solche wagnisreichen Projekte auch wirtschaftlich erfolgreich werden. (Dieser Effekt fehlt Kopisten völlig.)

Evolution funktioniert nun mal grundsätzlich so, dass dabei absolut Neues entsteht. Etwas, was daher noch nicht erforscht und kartiert sein kann. Man kann sich also dabei nicht absichern. Man kann nur „machen“, man kann nur wagen. Und das Neue entsteht eben nur, weil man es wagt. – Mir hat folgendes Bild sehr geholfen, Evolution zu verstehen: Man steht an einer Klippe (Edge) und geht in Richtung des Nichts – und nur indem man geht und wagt, entsteht etwas Neues – und man tritt so doch wieder auf festen Boden.

Diese Art zu Gehen sollten wir wieder lernen, irgendwie. Und möglichst schnell…

Olympia 1972 München


Aufbruch eines jungen Mannes – und einer Stadt

Heute geht das Leben junger Menschen (spätestens) mit 18 Jahren los. Dann sind sie volljährig und sollten die Verantwortung – vor allem aber die mit der Unabhängigkeit (=Freiheit?) verbundenen Freuden zu genießen lernen. Ich gehörte gerade noch zu der Generation, die erst mit 21 Jahren volljährig wurde. (Der Treppenwitz der Geschichte hier: Genau einen Monat nach meinem 21. Geburtstag wurde das Volljährigkeitsalter auf 18 herabgesetzt.)

Trotzdem begann das Leben als Jugendlicher Anfang der 70er-Jahre durchaus mit dem 18. Geburtstag. Dann durfte man nämlich auch damals schon den Führerschein machen. Und dann war es vorbei mit der nächtlichen Sperrstunde, die bis dahin die letzte Tram in Richtung Berg am Laim definiert hatte. Jetzt konnte man auch mal später nach Hause kommen – den Krach am nächsten Morgen (oder noch des Nächtens, weil die besorgte Mama „nicht einschlafen konnte“) rechnete man dafür gerne mit ein.

So wie damals in den Jahren 1971/1972 mein Leben mit dem Führerschein und dann auch mit dem ersten eigenen Auto in Fahrt kam – einem elfenbeinfarbenen VW Käfer 1300 (mit dankenswerterweise unverbiegbaren Stoßstangen) – so wachte zu dieser Zeit die gesamte Stadt München aus ihrer Behäbigkeit und Betulichkeit auf. Die ideologische Basis hatten die Schwabinger Krawalle 1962 und dann die 68er-Revolte samt den studentischen Sit-Ins und Teach-Ins geliefert.

Weltstadt mit Herz

Für eine echte Integration in die 68er-Jahre war ich zu spät geboren. Immerhin durfte ich als jüngstes Mitglied der (neu erkämpften!) Schülermitverwaltung den Triumph der Einrichtung eines Raucherzimmers für die Oberstufe mitverantworten. Ich durfte des Nachmittags im Musikzimmer des Wilhelm-Gymnasiums die wüsten Klavierkaskaden eines wilden Pianisten und Sängers und seiner Begleitmusiker erleben: Konstantin Wecker. Eine herbe Niederlage mussten wir bei der Forderung nach einem designierten Sex-Zimmer im Gymnasium einstecken. (Wir waren ein humanistisches Jungen-Gymnasium, wohlgemerkt!) Das wurde glatt abgelehnt.

Den großen Pusch der Emanzipation von einer verkrusteten und verschlafenen Landeshauptstadt zu einer attraktiven Großstadt erlebte München damals in der Vorbereitung – und dann der Feier der Olympiade 1972. Plötzlich waren die Baugruben, die das München der 60er-Jahre geprägt hatten, verschwunden, es gab eine U- und eine S-Bahn. Neue Hotels, Restaurants und Cafes schossen aus dem Boden, und auch Fast Food- und Pizza-Buden.

Bunter Mix von Menschen

Dann kam die Welt zu Besuch nach München. Wir rückten in unserem sowieso kleinen Reihenhaus zusammen und hatten die Olympia-Tage über ein junges Ehepaar aus Sapporo zu Gast. Wie fremd und schick. Dazu kam noch mein Onkel – mit ganz vielen Eintrittskarten zu den verschiedensten Sportereignissen inkl. Boxen, Volleyball, Leichtathletik, Fußball etc. Es war ein wunderschöner Mix an Menschen in der Stadt. Endlich konnte man auch mal das mühsam erlernte Englisch live anwenden.

Trotz der niederschmetternden Tage der Geiselnahme der israelischer Sportler samt deren tragischen Ausgangs, war die Olympiade in München ein echtes Coming Out der Stadt und ihrer Bewohner. Plötzlich war nicht mehr nur das berühmte Schwabing ein Ort der Boheme, sondern ganz neue Viertel wurden hip: das Lehel, Haidhausen, die Isarvorstadt, die Au, die Schwanthalerhöh etc. Überall schossen neue Läden, junge Kneipen und lustige Alternativen aus dem Boden.

Jazz statt Rock

Besonders unvergesslich bleiben mir die Wochen der Olympiade aber vor allem aufgrund eines Konzertes. Im Rahmen des Kulturprogramms gab es für die jüngeren Zuhörer ein sehr spezielles Jazz-Konzert im Kongress-Saal des Deutschen Museums. Ein Rock-Konzert in staatlicher Verantwortung war damals noch undenkbar. Aber Jazz, das schon. Das hatte ja schon Eingang ins Feuilleton gefunden.

Irgendein sehr kompetenter und zugleich sehr subversiver Mensch muss dieses Programm gestaltet haben. Es spielten nacheinander drei Gruppen. Zuerst eine polnische Jazz-Band, deren Name mir leider (aber zurecht) entfallen ist. Das war gut gemeint von wegen Ostpolitik etc., mehr aber nicht. Danach folgte die Charles Mingus Band. Ein echtes Highlight, so weit ich es mit meiner damals begrenzten Musik-Kompetenz beurteilen konnte. Das Publikum war jedenfalls gebannt, sowohl von den Solo-Leistungen als auch dem perfekten Zusammenspiel unter der Führung des Altmeisters am Bass. Und dem Affen wurde auch Zucker gegeben: Selbst die singende Säge wurde ausgepackt.

Metal-Jazz: Mahavishnu Orchestra

Den Abschluss des Konzertes machte das Mahavishnu Orchestra von John McLaughlin. Ich hatte die erste LP des legendären Jazz-Rock-Quintetts schon im Plattenschrank. Die ingeniöse Mischung aus Instrumental-Virtuositis , genialen „anderen“ Melodien und einem bisweilen extrem aggressiven Drive hatte mich von Anfang an begeistert. Daher auch meine Investition in die teuren Konzertkarten des Olympia-Kulturprogrammes.

Nach einer längeren Umbaupause war schließlich das riesige Equipment der Band aufgebaut: Eine Mauer aus mannshohen, hellblau verchromten Boxen von Shure und dazu die üblichen Türme von Marshall für Gitarre, Bass und die Violine. Ein leises Surren der Anlage schwebte im Saal. John McLaughlin, guruhaft ganz in Weiß gekleidet, begrüßte das Publikum höflich-schüchtern und legte erst einmal eine kurze Meditations-Minute in aller Stille ein. Es war mucksmäuschenstill.

Und dann brach das Inferno los. Ich habe außer einem Motörhead-Konzert im Beton-Quader des Schwabinger Bräu nie wieder solch eine laute Band gehört. Und was sie da in mörderischer Lautstärke boten, war musikalisch eine Ungeheuerlichkeit: höchste Virtuosität, ein geniales Zusammenspiel von fünf extrem versierten – und motivierten – Musikern. Verrückte Harmonien, aberwitzige Rhythmus-Kaskaden (Billy Cobham at his best!!!), schräge Taktgebung, überraschende Breaks, hypnotisierende Soli und wilde Melodie-Verfolgungsrennen zwischen John McLaughlin (Gitarre), Jerry Goodman (Violine) und Jan Hammer (Keyboards, Synthesizer) – und nicht zu vergessen Rick Laird (Bass).

Das vielleicht beste Konzert, das ich je gehört habe. Das Publikum reagierte zuerst wie paralysiert. Die Lautstärke hatte alle in ihre Sitze gepresst. Die Münder standen offen. Teils aus Staunen, teils um die Lautstärke irgendwie aushalten zu können. Der erste Song war „Meeting the Spirit“, danach folgte „You Know, You Know“. – das zu wissen, verdanke ich der extensiven Beschreibung des Konzertes von Christopher Schneider, der damals das Konzert auf Kassettenrekorder mitgeschnitten hat.

Nach etwa zehn Minuten Paralyse aufgrund von Harmonik und Lautstärke muckten dann endlich die Jazz-Puristen auf. Ihre Buhrufe hatte keine Chance, gehört zu werden, zu laut spielte das Mahavishnu Orchestra – und zu gut. Also verließen die Jazz-Spießer unter Protest den Saal. Nach kurzer Unruhe war der wohl zu einem Drittel geleert. Der Rest aber feierte die Band und das Konzert. Und – man war jetzt unter sich.

Mahavishu Orchestra, August 1972, München

Musikalisches Erweckungserlebnis

Ich habe inzwischen eine ganze Reihe von Live-Konzerten des Mahavishnu Orchestras auf meiner Festplatte. Auf Wolfgangs Vault kann man sehr gut ihre kurze Live-Karriere anhand verschiedenster Konzerte mitverfolgen. (Die Konzerte sind gratis per Stream, man kann sie aber auch für kleines Geld als MP3 kaufen.) Auch auf Youtube gibt es Mitschitte, die die Grandiosität und Aggressivität des Konzerts erahnen lassen: You know, you know, You know You know (HD), Meeting of the spirits, und in weniger berauschender Soundqualität Dance of the Maya, Birds, A Lotus on Irish Streams. (Trilogy ist aus urheberrechtlichen Gründen gesperrt.)

Das Konzert war für mich ein Erweckungserlebnis. Ich hatte schon längst Rockmusik geliebt – und auch in diversen Bands selbst gemacht. Ich hatte bis dahin auch schon einige Konzerte gehört, darunter Jethro Tull, Pink Floyd – und natürlich alle lokalen Heroen: Out of Focus (jetzt MP3s auf Amazon ), Subject Esquire/Sahara, Amon Düül, Red Rooster u.v.a. Aber nach diesem Konzert hatten sich mein Gehör und mein Musikgeschmack neu justiert. Seitdem war mir keine Band auf Dauer genug, die immer dasselbe spielte. Seitdem liebe ich Musik, die neue Wege geht. Seitdem liebe ich Musik, die im ersten Moment weh tut, weil sie Hörgewohnheiten (und Denkgewohnheiten) verletzt.

Seitdem liebe ich nur noch Musiker und Bands, die einen Unterschied machen. – Und da es solche Musik und solche Musiker unverändert gibt, habe ich bis heute nicht aufgehört, Musik zu sammeln, Musik zu hören – und auch ein wenig Musik (für mich) zu machen. – Und das habe ich irgendeinem wunderbar verrückten Menschen zu verdanken, der Programmverantwortlichen des Kulturprogramms der Olympischen Spiele eingeredet hat, dass das Mahavishnu Orchestra eine Jazzband ist…

P.S.: Gerade entdecke ich, dass „Underworld“ auf dem Sampler-Album „Athens“, auf dem sie die Bands verewigt haben, die sie maßgeblich beeinflusst haben, auch das Mahavishnu Orchestra mit dabei haben – mit You Know, You Know“!