Die Zeit macht „Mmmmmh“


Wo ist die Zeit geblieben? Hat sie ein Zuhause?

Gerade in diesem Moment poppt in der Facebook-Timeline von Peter Glaser der Satz auf: „Bei euch macht die Zeit tick-tack, tick-tack. Bei uns macht sie Mmmmmh.“ Es gibt solche absonderlichen Momente spontaner Weisheit. Immer öfter. Im Internet. Ein Satz steht im Raum, noch nie zuvor gehört oder gelesen. Aber es ist, als hätte er schon seit langem einem selbst auf der Zunge gelegen. – Zunge? – Oder wo man halt sonst sein Zeitgeistgespür verorten mag.

iStock_000017987518LargeAlles jammert, dass die Zeit immer schneller verrinnt. Dass sie sich beschleunigt – und mit ihr unser alltägliches – allzeitliches – Leben. Das ist das Schöne an kontinuierlicher Beschleunigung. Irgendwann kommt da selbst die Zeit nicht mehr mit. Dann löst sie sich auf. Aus dem „Tick-Tack“ wird ein rhythmusloses, losgelöstes Seufzen, Brummen, ein ratloses „Mmmmmh“. Und das ist schön. Die Zeit bleibt da nicht stehen, aber sie macht sich auf eine eigene Art überflüssig – und unwichtig. Auch an der Zeit nagt der Zahn der Zeit.

Die Zeit hat sich seit der Digitalität immer weiter aufgelöst. Sie hat ihr Zuhause verloren. (Daher auch immer wieder die Frage: Wo ist die Zeit geblieben?) Das Nacheinander von Informationen ist dem Nebeneinander, Übereinander und Durcheinander von Zeitigkeit, von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit gewichen. Die Zukunft wird zunehmend von der Gegenwart eingeholt. – Traut sich noch jemand „Zukunftsforscher“ zu nennen? Und welche Zukunft will er noch prognostizieren? Die von heute? Morgen ist doch sowie schon fast vorbei. Und findet das überhaupt statt?

Zeitreise zurück im Gedankengang

Die Verschiebung von heute, morgen, gestern ist für Zeitungsleser jeden morgen Alltag. Mehr als die Hälfte der Nachrichten sind Déjà vu. Hat man doch alles längst schon gelesen und gesehen. Ein weiteres Viertel der berichteten Wirklichkeit trägt eine seltsames Patina. Man ist selbst doch schon längst sehr viel weiter mit seinen Gedanken. Man muss, wenn man denn dazu bereit ist, den Gedankengang mühsam wieder zum Stand des jeweiligen Autoren zurückgehen. – Und nur ganz, ganz wenig ist in der alltäglichen Zeitung nach vorne gedacht. (Am Wochenende in der Süddeutschen ist der Anteil angenehmerweise deutlich höher.)

So verrutscht unser Zeitempfinden immer dramatischer. Und von wegen „Tick-Tack“. Wir haben uns doch längst von dieser Rhythmik befreit. Wer auf sich hält, trägt keine Armbanduhr mehr. Das sichtbarste Zeichen eines digitalen Commitments ist die blanke Handfessel. Es sei denn man ist iOS-hörig und schraubt sich nun dort eine Smartwatch an, die nicht tickt und auch nur bestenfalls 18 Stunden lang am Stück die Uhrzeit zeigt, bevor sie mangels Saft verglimmt. Stumm. Ganz ohne mmmmmh.

Der Jetlag des Prekariats

Schnell ganz schnell musste die Smartwatch auf den Markt, ehe sich zu viele Menschen an eine uhrlose Handfessel gewöhnen. Dann wäre der letzte Platz, gerade Männern Geld für ein kleines Stück Körperschmuck abjagen zu können verloren gewesen. Und die Zeitlosigkeit wäre zur grundexistenziellen Grunderfahrung avanziert. Der reinste Horror Vacui, nicht nur für Juweliere.

Apple weiß, dass die Uhrzeit am wenigsten interessant ist an der Apple-Watch. Die bekommt man dann ja auch gratis. Man zahlt aber mit den persönlichen Daten der täglichen Lebensführung, den Leistungsdaten der Fitness-Apps – und natürlich dem eCommerce-Know how der Payment-App. Zeit ist unwichtig, die Daten sind der Schatz, den es zu heben gilt. Das Leistungsprinzip wird neu definiert. Statt Arbeit pro Zeit gilt nun Datendichte pro User.

Die Befreiung der Zeit

„Time is on my side!“ – singen die Rolling Stones – „yes it is!“ Und weiter: „Now you all were saying that you want to be free.“ Eine schöne Weisheit. (Stammt nicht von den Stones, sondern von Textautor Jerry Ragovoy.) In der digitalen Welt ist Zeit fast immer das Jetzt. Eines, das uns hetzt, wenn wir nicht aufpassen. Dann ist es geschehen um unsere Freiheit. Das Jetzt kann man aber auch zu genießen lernen. Wir üben das, indem wir gleichzeitig ganz viele Jetzte beobachten. Bei Facebook, Twitter & Co.. Jetzt in Bild, Ton, Text und Video. Ein fraktales, über alle Welt hinaus zersplittertes Jetzt. Ein Jetzt, an dem stets noch ein bisschen Flaum dran klebt. Ein kleiner Gruß aus der Zukunft – beziehungsweise, was davon noch übrig geblieben ist.

Was machen aber nun die Menschen, bei denen die Zeit noch „tick-tack“ macht und nicht „mmmmmmh“. Die noch den Stechschritt der Zeit brauchen, um sich in der Welt heimisch zu fühlen? Was tun, wenn man Angst vor der Auflösung der Zeit hat? Wenn man noch diese drög konventionelle Aufteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft braucht, um sein Leben zu organisieren? Wohin mit der Zukunftsangst, wenn es keine Zukunft mehr gibt? Und was tun mit den wehmütigen Erinnerungen, wenn die Gegenwart einen mit so vielen, auch schönen Bilder bombardiert – und die Wissenschaft längst beweist, dass alle Erinnerungen irgendwie Einbildungen sind?

Also ich habe den Verdacht, dass das mit einem auf Logik und Zack getunten Gehirn nicht so recht funktionieren mag. Eher mit einem sehr relaxten Mind, der gerne mal im „mmmmh“-Modus läuft. Ein wacher, aber absichtsloser Geist, der sich kindlich über die Ereignisintensität einer immer fraktaler werdenden Gegenwart freuen kann. Und ein kreativer Geist, der die Masse an Input genießt – und kreativ das Beste daraus macht: noch mehr Jetzt. Noch mehr „Mmmmmh“.

Damit fangen wir gleich mal an. Jetzt! – Mmmmmh…

Das blanke Handgelenk


Die Entzeitlichung der Zeit

Es passiert immer öfter, dass man von jungen Menschen angehauen wird. Nicht um Geld, sondern um Zeit: „Wie spät ist es denn?“ Nicht dass diese Jugendlichen und Jung-Erwachsenen nicht das Geld hätten, sich eine Uhr zu kaufen. Vor allem, seit diese auch schon für wenige Euro zu haben ist. Ja nicht einmal, wenn sie das Geld hätten, sich teure, schicke Uhren zu leisten, sie würden darauf verzichten.

Uhren sind uncool. So wie offene Schnürsenkel und unter dem Hüftknochen platzierte Hosen signalisieren, ich bin cool, ich werde nie einen eilenden Schritt tun, entsprechend zeigt das Fehlen einer Uhr, dass man sich nicht von der Hektik unserer Konsum-/Medien-/Geschäfts- und Arbeitswelt tyrannisieren lassen wird. Das blanke Handgelenk als schicke beiläufige Geste des Protests gegen den Status Quo.

Die amerikanische Vordenkerzeitschrift “The Atlantic“ sorgt sich daher schon darum, dass in jungen Kreisen die übliche Handgeste, wenn man auf das Handgelenk deutet, um stumm nach der Uhrzeit zu Fragen, nicht mehr funktioniert: „Was will er, wenn er dahin zeigt? Hat er Schmerzen im Handgelenk?“

Ohne Zeit keine Leistung

Sehr schön wird im Artikel im „Atlantic“ die Historie der Chronisierung und Mechanisierung der Zeit skizziert. So gesehen sind Uhren und deren Zuwachs an Macht ein Synonym für unsere Industriekultur, den Kapitalismus und das Leistungsprinzip: Leistung = Arbeit x Zeit. Was für eine Perspektive. Auf der einen Seite geht uns die Arbeit aus – und nun vaporiert auch noch die Chronologie. Wie soll sich dann Leistung noch lohnen, Herr Ackermann?

Ich bin nun ein Vielfaches zu alt, um so cool sein zu können wie die uhrlosen jungen Leute, ja auch alt genug, um es nicht mehr sein zu wollen. Trotzdem trage ich keine Uhr. Zum einen hat mich noch nie die Idee fasziniert, den Gegenwert eines Gebrauchtwagens oder gar eines Kleinwagens am Handgelenk spazieren zu tragen. Es war mir schlicht körperlich unangenehm. Warum sollte ich die Manschetten meiner Hemden hoch krempeln, um dann trotzdem noch immer kein freies Handgelenk zu haben? Und ein nettes, kluges oder witziges Wort schmückt allemal mehr als eine dicke Rolex (& Konsorten).

Entspannter Umgang mit Zeit

Jetzt ist mein Handgelenk wieder nackig, denn ich brauche längst keine Uhr mehr. Es gibt genug rundum. Im Arbeitsumfeld sowieso oder etwa am Computer, aber auch massenweise im öffentlichen Raum. Spätestens seit das Smartphone unabdingbar ist, weiß zumindest ein Apparat, den ich bei mir trage verlässlich, wie spät es ist. Das ist die rationale Seite der Geschichte. Aber steckt nicht auch ein Körnchen Attitüde dahinter? Wahrscheinlich.

Ich bin nicht der Einzige meiner Generation, der bewusst auf einen Zeitmesser verzichtet. Professor Karlheinz Geißler, seines Zeichens Zeitforscher, tut das ebenso, wie er in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung berichtet. Sein Argument für den Uhrenverzicht ist ein entspannteres Verhältnis zur Zeit. Um nicht zu spät zu kommen, ist er häufiger früher da und nutzt die verbleibende Zeit, und gesteht aus dieser entkrampften Haltung jedem Menschen auch zu, zu spät zu kommen – und definiert das als Höflichkeit. (Daran kann ich noch arbeiten.)

Wir Händler der Zeit

Den wichtigsten Punkt aber streift er nur kurz: Die Uhr als Taktgeber unserer Gesellschaft hat längst ausgedient. Wir sind nicht mehr Sklaven der Taktung nach Stunden und Minuten, wir sind inzwischen auf der nach oben offenen Skala der Souveränität zu geschickten Händlern und Kaufleuten der Zeit aufgestiegen. Wir verabreden uns nicht mehr zu festen Zeiten, sondern nur unverbindlich in groben Zeitrastern, um dann die Details on the fly, bzw. via air per Handy aktuell vor Ort zu verhandeln: „Wo bist du gerade? – Ich bin hier. – Kommst du die nächste halbe Stunde vorbei?“

An der Deflation der Zeit ist (natürlich!) auch die Digitalität schuld. Seitdem wir uns Dinge jederzeit und überall zu Gemüte führen können und wir uns nicht mehr zu fixen Zeiten vor Radios versammeln müssen, um Musik zu hören oder vor TV-Geräten, um Nachrichten zu erfahren oder eine Sendung zu sehen, ist die Zeit beliebiger geworden.

Die befreite Zeit

Zugleich ist die Zeit immer unverbindlicher geworden – und sie wird es durch unseren Umgang mit der Zeit immer noch mehr. In einer globalen Welt, die sieben Tage die Woche rund um die Uhr (!) 24 Stunden lang ohne inne zu halten funktioniert, ist die Zeit quasi deflationiert. Wir haben immer weniger davon, sie ist (uns) aber trotzdem immer weniger wert.

Das fällt am meisten auf, wenn die Zeit einmal völlig außer Kraft gesetzt ist. Fragen Sie Ihre Freunde oder Kollegen, die beim Vulkanausbruch des Eyjafjallajökull  irgendwo in der Welt gestrandet sind und nicht mehr weiter kamen, wie sich das anfühlt. Erst unangenehm, dann rundum befreiend.

Evolution der Zeit

Und hier ist der nächste Schritt der evolutionären Entwicklung der Zeit zu erahnen: Über Zeit entscheidet nicht mehr die neutrale, von Wissenschaftlern definierte Zeit von Minuten und Stunden, Tagen und Jahren, sondern unser ganz persönliches Verhältnis zur Zeit. Jeder kennt das Gefühl, dass sich die Zeit verdichtet, wenn etwas interessant ist und wie sehr sich Zeit verdehnen kann, wenn dem nicht so ist.

Je mehr wir autonome Personen werden, die sich nicht von einer ideellen oder orologischen Taktung des Lebens tyrannisieren lassen, desto mehr werden wir Herrscher unserer Zeit. Und je mehr sie sich dabei verdichtet, desto wichtiger wird der Augenblick – und desto nebensächlicher wird Vergangenheit – oder wird jedes bange machen vor der Zukunft unwahrscheinlich.

Die Augenblicklichkeit – also der Genuss des Hier und Jetzt ist doch eine wunderschöne Vision. – – – Vor allem hier und jetzt, während ich mit dem Zug nach Süden fahre…

Aber halt, ich bin ja schon da und muss aussteigen… – die Zeit ist wie im Flug im Zug vergangen…

P.S.: Jetzt hat auch Spiegel Online das Thema aufgegriffen: „Der digitale Schwarm“.

Knacks im Zeitstrahl


Kasperl-Theater von The WHO

Es gibt diese wunderschöne Geschichte – wahr oder unwahr? – aus einem Altersheim in den USA. Die älteren Damen und Herren hören gebannt und besorgt einer Rede von Ronald Reagan zur Lage der Nation zu. Es wurde wohl gerade wieder ein Krieg als unabdingbar an die Nation verkauft. Die ernste Stimmung wird von zwei der Zuschauer krass gestört. Sie lachen lauthals und können sich gar nicht einkriegen. Die beiden alten Herren waren taub und beobachteten allein die beredte Mimik und Gestik des Schauspielers, der so eindrucksvoll den Präsidenten gab. Und die dargebotene Gestik kollidierte so sehr mit dem Ernst der Lage, dass die beiden Taubhörigen, die längst perfekt gelernt hatten, Gesten und Mimik zu lesen, das Ganze als Comedy oder Kabarettveranstaltung missverstanden.

Wäre eigentlich auch eine sehr lustige Vorstellung, unter Gehörlosen einer Rede von Angela Merkel – oder noch besser: von Guido „Ich-bin-so-bedeutend“ Westerwelle zu folgen. Das grenzt ja schon oft für Hörende an Realsatire. Aber Halt, kein Grund zur Häme! Ist doch wirklich schwierig, wenn man frei sprechen soll und all die Vorgaben der Pressestellen, der Rede-Coaches, die verschiedenen Politstrategien und die Erwartungen diverser Lobby-Gruppen gleichzeitig unter einen Hut bringen zu wollen/sollen. Das kann nur zu so leeren Gesten und Worthülsen führen, wie jeden Tag in den Nachrichten zu beobachten. Der kleinste gemeinsame Nenner war noch nie Gassenhauer.

Eine seltsame, technisch bedingte Spreizung von Gestik und Akustik war Montag früh um die 3:00 Uhr  als Kuriosum zu bestaunen. Halbzeitpause beim Super Bowl in Miami. The WHO spielten auf. Wie anders sollte man das holprige 12-minütige Best-of-Medley nennen. Dabei ähnelte das Ganze einem außer Rand und Band geratene Kasperle-Theater. Was dann als „Digitale Panne“ in der internationalen Übertragung des Super Bowl entschuldigt wurde, war das technische Erbe von „Nipplegate“, der kurzzeitigen Entblößung des getapten Busens von Janet Jackson. Seitdem werden die Bilder zeitversetzt übertragen, damit im schlimmsten Fall einer neuerlichen Entblößung die übertragende Fernsehanstalt noch zensierend eingreifen kann.

Keine Ahnung, welche Ängste die Fernsehveratwortlichen und amerikanischen Sauberkeitspolitiker bei The WHO plagten. Weder Roger Daltrey noch Pete Townsend sind je durch Entblößungen auf offener Bühne auffällig geworden, nicht einmal in ihrer wüsten frühen Phase in den 60-er Jahren. Und was sollten auch ältere Herren von 64 bzw. 65 Jahren auch entblößen wollen?

Wenn schon Panne, dann „Digital“

So kam das Bild des kurzen Liveauftrittes um ca. eine halbe Minute zeitversetzt an, der Ton aber leider nicht. Der kam in Echtzeit. So durfte man in reinster digitaler Qualität die noch immer beachtliche Stimme von Roger Daltrey und die nicht so gut erhaltene von Pete Townsend hören, bekam die Bilder, wie sich die Herren dabei angestrengt haben, aber erst später nachgeliefert. Es hat sowieso etwas muppet-show-eskes, wenn ältere Herren die exaltierten Posen junger, stürmischer und aufmüpfiger Tage nachahmen. Durch die digitale Kluft von 30 Sekunden wirkte das aber zusätzlich lächerlich. Immerhin ist Roger Daltrey nicht verkalkt. Er selbst war über die Darbietung wenig begeistert. Seine Klage: Keine Konzertatmosphäre … viel zu kurzes Medley etc.

Immerhin glaube ich seit dieser kuriosen „Digitalen Panne“ wieder an die Geschichte mit Ronald Reagan (s.o.). Wenn Gestik und Sound – zeitlich – so weit auseinander liegen, entsteht automatisch Komik. Dann wird die Zeitillusion, in der wir leben und die wir stets so erfolgreich verdrängen, plötzlich ganz bewusst. Wir sind in des Wortes Bedeutung „aus der Zeit gefallen“. Das Kontinuum des Zeitstrahls hat plötzlich einen Knacks bekommen.

Interessant aber auch die lapidare Entschuldigung für die Asynchronität. Man muss vor das unangenehme Wort „Panne“ nur ein „Digital“ voranstellen, schon scheint die Peinlichkeit der Situation entschärft. „Digital“ scheint inzwischen schon so weit diskreditiert zu sein, und es hat schon so oft für Pannen und Unzulänglichkeiten herhalten müssen, dass es ganz kompetent und glaubwürdig menschliches Versagen kaschieren kann. Digitalität ist schon sehr weit auf dem Weg zur ganz normalen Normalität vorangekommen…