Wie der Präsident, so das Land
Es schmerzt wirklich nicht wenig, erkennen zu müssen, von einer beleidigten Leberwurst als Staats-Präsidenten repräsentiert worden zu sein. Aber beim zweiten Nachdenken keimt ein viel schlimmerer Verdacht auf. Der Präsident in seiner Wehleidigkeit war vielleicht ein adäquater Repräsentant unseres Landes.
Dieser Eindruck entsteht, wenn man wieder einmal des Volkes Stimme unaufgefordert aufgedrängt bekommt. In der S-Bahn etwa. Im Abteil gegenüber sitzt ein Rentner-Ehepaar. Beide reden ungerührt aufeinander ein, jeder in seinem eigenen Klage-Monolog über den Lauf der Welt, vor allem aber über die unermesslichen Unbillen, die er bzw. sie täglich zu erleiden haben. Das geht von den schrecklichen Nachbarn über die missratenen Nichten und Neffen bis – natürlich – zu den unfähigen Politikern. Wie da zwei Menschen längst verlernt haben, einander zuzuhören und stattdessen ganze S-Bahn-Abteile ungerührt mit negativer Energie und ewigem Wehklagen zumüllen, lässt einen schaudern.
Jung und Alt klagen um die Wette
Ähnlich wenig erbaulich sind aber auch in der S-Bahn zwangsweise mitgehörte Gespräche junger weiblicher Teens im besten spätpubertären Alter. Wie sie sich gegenseitig über die schlimmsten Zumutungen, die das Leben an sie stellt, beklagen. Von Chefs, die sich erdreisten, (zugegeben: berechtigte!) Kritik zu äußern, über die doofen Kollegen und Freundinnen, die die eigene Genialität nicht anerkennen wollen, bis zu den derzeitigen Freunden, die so gar nicht funktionieren wollen, wie sie es gerne hätten. Eine einzige Lawine von Selbstmitleid und Wehleidigkeit.
Man kann über solch unangenehme, allzu menschliche Unzulänglichkeiten wie Wehleidigkeiten am besten schreiben, wenn man sie selbst durchlebt, durchlitten und – wenigstens etwas – gezähmt hat. Als Einzelkind – mein Schicksal – hat man die ideale Disposition, Wehleidigkeiten zu entwickeln. Keine Schwester, kein Bruder bringt einen auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn man sich auf irgendeine fixe Idee kapriziert, und weil sie nicht funktioniert, dann die Welt und ihre Bösartigkeit dafür verantwortlich macht, wenn man mit ihr scheitert.
Der Weg aus der Wehleidigkeits-Falle
Mich haben später liebende Frauen in nicht immer liebevoller Art von den schlimmsten Auswüchsen von Wehleidigkeit geheilt. Für den nächsten Schritt auf dem Weg zu weniger emotionaler Wichtigtuerei und eitlem Narzissmus haben dann Kinder gesorgt, für die man Verantwortung übernommen hat. Wie sollte man ihnen die schlimmsten Auswüchse an Wehleidigkeit austreiben, wenn man sie selbst hemmungslos auslebt?
Aus der Falle der Wehleidigkeit befreit haben mich dann mehrere Phasen von Coaching. Da wurde die Falle, die man sich durch Wehleidigkeiten stellt, endlich klar: Die irrationale Fixierung auf Bedürfnisse, auf Ideen und Pseudowerte, die meist irgendwo und irgendwie unreflektiert akquiriert, meist sogar oktroyiert worden sind, machen den Lebensweg so schwierig. Sie sind ein riesengroßer Rucksack, an dem man sich abschleppt, ohne darüber nachzudenken, wer ihn gepackt hat – oder gar, ob man ihn überhaupt will.
Großtierherde an Fetischen
Kurioserweise verwechselt man diese Beipacklast mit dem eigentlichen Leben und verteidigt jede einzelne Nichtigkeit daraus: Jede noch so kuriose bis lästige Eigenschaft. Jede neblige Hoffnung und jede noch so schwiemelige Sentimentalität. Jede längst hohl gewordene Werte-Illusion und dazu eine ganze Armada von kitschigen bis dysfunktionalen Fetischen, die man sich über Jahre zugelegt hat wie einst die von Tanten und Omas zwangsbehegte Großtierherde an Plüschtieren.
Das Ganze firmiert dann unter dem Totschlag-Argument: „Ich bin nun mal so!“ Dies ist der Schlachtruf der Reflexionsverweigerung und eines störrischen Innovations- und Evolutions-Boykotts, der immer und wieder gnadenlos ertönt. Unglaublich, welche Paraphernalia und Belanglosigkeiten ins Feld geführt werden, um nur ja nicht einmal einen Deut in seinem Leben ändern zu „können“.
Eisenkugeln am Fuß
Aber all das, an dem man da so irrational festhält, macht das Leben schwer. Die Wehleidigkeiten sind wie Mühlsteine am Hals, wie Eisenkugeln am Fuß. Sie machen ein flexibles, ein neugieriges, ein lebendiges Leben unmöglich. Und da das Leben keine Rücksicht auf Mühlsteine und Eisenkugeln nimmt und sich einfach munter vor sich hin ändert, entstehen die Konflikte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, die es so wortreich und lautstark zu beklagen gilt. Das ist die Sprengkraft, aus der sich die Wehleidigkeit so erfolgreich munitioniert.
Wehleidigkeiten sind die Gefängnismauern einer immobilen, einer beharrenden, einer zukunftsstörrischen Gesellschaft. Gefängnismauern, die immer dicker werden, je lauter die Wehklagen dahinter ertönen. Aus ihnen kann man sich nur befreien, wenn man erst erkennt, in welch verfahrene Situation man sich gebracht hat. Und dann gilt es viel zu üben und wirkungsvolle Rituale dagegen zu entwickeln.
Leider bleibt den meisten Menschen, die nicht aus den Fesseln der Wehleidigkeit ausbrechen können, nicht der flinke Ausweg eines Rücktritts mit unmittelbarer Wirkung – bei vollen Pensionsbezügen. Genauso wenig ist das Gesellschaften vergönnt, die sich vor lauter Wehleidigkeit nicht vorwärts entwickeln wollen. Die Welt entwickelt sich weiter, erbarmungslos, ohne auf Wehleidigkeiten auch nur ein Quentchen Rücksicht zu nehmen…