Wenn Medien-Entzug zum Vergnügen wird
Ich bin auf Entzug. Multiplem Entzug. Nur bedingt freiwillig. Inzwischen aber gutwillig – und mit guter Laune. Los ging’s mit dem – nur teilweise freiwilligen – Entzug der Tageszeitung, in diesem Fall der Süddeutschen Zeitung. Teils war der streikbedingt, teilweise langen Absenzen von zu Hause geschuldet. Meine Abenteuer rund um mein Abo der Süddeutschen Zeitung habe ich hier in diesem Blog ausführlich beschrieben – samt erhellenden Kommentaren vom Digitalchef der Süddeutschen, Stefan Plöchinger.
Inzwischen bin ich Abonnent der Digitalausgabe der Süddeutschen. Nun gut, jeden zweiten Tag vergisst die Site mein Login, aber mit einem Klick kann ich dann meist wieder weiterlesen. Nur noch freitags und samstags kommt die Printausgabe ins Haus. (Das klappt nach ein paar Anlaufschwierigkeiten auch.) Kein gutes Geschäft für die Süddeutsche, denn diese Kombi kommt billiger als das Voll-Abo. Der Effekt des Schwenks zur digitalen Ausgabe: Ich lese weniger. Dafür kann die Süddeutsche nichts, vor allem die Wochenendausgabe ist wirklich klasse.
Aber so weit ich vom Digital Native altersbedingt entfernt bin, die vielen Jahre Onlinekommunikation – 20 werden es dieses Jahr! – haben ihre Wirkung hinterlassen. Meine Medienrituale – oder wie der britische Digital-Anthropologe Daniel Miller es nennt: meine Mediatisierung – hat sich spürbar verändert. Zu ungunsten der überkommenen Medien.
Jede Kommunikation ist mediatisiert
Ein Artikel in der Zeit über Daniel Miller und seine weltweite qualitative Sozialforschung zu Facebook, Twitter, WhatsApp Instagram & Co. hat diesen Wandel sehr gut beschrieben: „Jedes persönliche und direkte Gespräch ist mediatisiert, es folgt impliziten Regeln und Konventionen.“Das ist im digitalen Umfeld nicht anders: „Menschen sind durch digitale Technologien nicht einen Deut stärker mediatisiert.“ Sein wissenschaftlich untermauertes Resumé zu den Digital Natives: „Technik macht sie glücklich.“ – Ja, tut es – mehr oder weniger – auch bei mir.
Der Vorteil der Zeitung, ob digital oder nicht, ist, dass man selbst bestimmen kann, wann man sie lesen will. Das aber ist beim TV nicht der Fall. Entsprechend ist mein TV-Konsum ausgedünnt. Er geht in championsleague-freien Zeiten inzwischen gegen Null. Obwohl, die letzten Partien habe ich mir sowieso per Streaming angesehen. Das Ende von festgelegten Präsenzzeiten vor dem TV erlebe ich nicht als Entzug, sondern als Befreiung. Krimis langweilen mich, Talkshows lösen Panikattacken bei mir aus…, Was mich interessiert – ein paar Dokus oder die „Anstalt“ vielleicht – sehe ich mir an, wann ich will. In der Mediathek.
Leapfrogging in Realtime
Das Internet bietet einfach zu viele Attraktionen per Video. Grandiose Musikvideos, Vorträge (nicht nur bei TED), Fortbildungskurse, Dokumentationen gibt es en masse bei YouTube & Co. Hinzu kommen Serien bei Amazon Prime (Bosch, The Man in the High Castle) und Netflix. Und für die guten Tipps, was anzusehen lohnt und was angesehen werden muss, sorgt die Medienkompetenz meiner Freunde bei Facebook und Twitter – allesamt medienaffine Menschen mit erfrischend kontroversen Interessen und breiter politischer Ausrichtung. (Zugegeben, politisch rechts ist gewollt eine breite Lücke.)
Bei meiner Reise zuletzt nach China war ich gezwungenerweise auch Facebook- und Twitter-abstinent. Beides ist ja in China zusammen mit allen Google-Diensten gesperrt. Auch hier, keine großen gefühlten Defizite. In China vermisst im Alltag ja sowieso keiner diese Dienste, weil es adäquate, oft bessere, passendere – und staatlich kontrollierte Angebote in China gibt. Den Effekt konnte ich gut live miterleben. Das Leben ist dort schon weit selbstverständlich digitaler als bei uns. Und das nicht nur bei jungen Menschen. Leapfrogging in Realtime. – Und ich bin kein Frosch und hüpfe mit.
Die Lehre der Leere
Zurück in Deutschland hat mein kontinuierlicher Entzug herkömmlicher Medienzufuhr durch den Streik der Briefträger weiter an Dynamik gewonnen. Seit drei Wochen ist nun unser Briefkasten schon konsequent leer. Und das ist gut so. Zum einen, weil ich als langjähriger Briefträger (zu Schul- und Unizeiten) deren Ausstand nur gut heißen kann. Zum anderen, weil man so erlebt, dass man es so auch gut ohne den gedruckten Spiegel aushalten kann. Gut für mein Zeitmanagement, schlecht für das Print-Business, dem ich schließlich die ersten zwei Jahrzehnte meiner Berufskarriere zu verdanken habe.
Vor allem aber lehrt der leere Briefkasten, wie sehr sich mein Kommunikationsfeld ins Digitale verschoben hat. Das Leben geht auch ganz gut ohne Post weiter. Herrlich, drei Wochen ohne Postwurfsendungen, ohne Werbung, ohne sonstigen Schmarrn. Gut, ein paar Steuerunterlagen sind verschollen, auch Auftragsbestätigungen. Das kann noch ärgerlich werden. Mal sehen, ob das Finanzamt auch höhere Gewalt (= Streik) anerkennen wird. – Und gespannt bin ich, wann der riesige Berg an Post, der in irgendwelchen Postlagern rumgammelt, angeliefert wird. Und wie? Per LKW?
Begleitete Verflachung und Verdummung
Wie geht es jetzt eigentlich Amazon? Ich bestelle dort nun gar nichts mehr. Dies auch aus erziehungstaktischen Gründen. Entweder wird aus Amazon eine verantwortungsvolle Firma mit Steuerzahlungen, adäquaten Löhnen – oder die Geschäfte in meinem Umfeld werden weiter von meiner Amazon-Abstinenz profitieren. Ich spüre auch hier fast keinerlei Mangelerscheinungen. Das ist Entzug auf die bequemste und irgendwie angenehme Art. Warm turkey statt cold turkey.
So verläuft meine Entwicklung zum Digital Adaptive in Riesensprüngen vorwärts. Den Einflüssen von Old School-Ritualen wie Streik sei dank. Und auch, weil die Medienlandschaft so spürbar und rapide verflacht. Welch Irrtum, im Digitalen nur in krampfhaft erzeugten Klick-Fantastilliarden zu denken. Man kann Clicks auch durch Leistung und Haltung erzielen. VOX, Mic, Vice, Mashable und andere in den USA machen es vor. Jürgen Habermas hat nicht so unrecht, wenn er wie zuletzt in der Süddeutschen schreibt: „Zur postdemokratischen Einschläferung der Öffentlichkeit trägt auch der Gestaltwandel der Presse zu einem betreuenden Journalismus bei, der sich Arm in Arm mit der politischen Klasse um das Wohlbefinden von Kunden kümmert.” Begleitete Verflachung und Verdummung, sozusagen. – Schön, dass ich da nicht mehr mittun muss. Warm turkey.