Diagnose einer Bagatell-Hysterie


Causa Wulff: Bashing-Rituale 2012

„Würde mich mal jemand dafür loben, dass ich den ganzen Tag noch nichts zum Thema W. getwittert habe?“ Christian Buggisch twittert zurecht, wenn er sich für seine Wulff-Bashing-Enthaltsamkeit loben lassen will. Es macht einen fassungslos, dass Deutschland scheinbar nichts Wichtigeres kennt, als sich über die Verfehlungen eines mittelmäßigen Provinzpolitikers zu echauffieren, den es in einer besonders herben Laune des Peter Prinzips auf die Position des Bundespräsidenten gespült hat.

Christian Wulff hat es mehr als verdient, kritisiert und auch gebasht zu werden, keine Frage. Nicht nur wegen seiner Kredite, seiner Ferienreisen und seinem Hang zum Gratis-Luxus. Sondern vor allem wegen seiner kompletten Uneinsichtigkeit in seine Verfehlungen: seine Kleinhäusler-Mentalität, wie man in Bayern sagt, wenn einer versucht, zwanghaft vor sich selbst größer wirken zu wollen, als er ist. Zudem hat er sich durch seine hahnebüchen desaströse Medienstrategie im Umgang mit seinem Skandal jedes Recht auf sein weiteres Beharren in diesem hohen Amt erfolgreich verwirkt.

Die Symptome einer Bagatell-Hysterie

So weit, so gut. Aber was reitet uns Deutsche, dieses Skandälchen so ernst zu nehmen und uns so manisch auf diese Amateur-Posse zu kaprizieren. Christian Wulff und seine – kleinhäuslerisch – verständliche Unfähigkeit zum Rücktritt ist eine Nichtigkeit, die man bestenfalls mal kurz belachen darf, vorzugsweise als Apercu bei Harald Schmidt. Aber damit genug! Bagatellen solcher Dimension taugen nicht zu Dramen. Aber wenn sie sich zu nicht enden wollenden Medien-Hysterien auswachsen, sagt das viel über den Zustand unseres Landes und seiner Bürger aus. Es verrät viel über den akuten mentalen Status der Deutschen. (Na ja, auch darüber, wie es um die etablierten Medien hierzulande steht.)

Wolfgang Michal vermutet in seinem Blogbeitrag ganz richtig: „Das crossmediale Bohei, das um das (politisch eigentlich überflüssige) Amt des Bundespräsidenten veranstaltet wird – ein Amt, das kaum einen Journalisten jemals ernsthaft interessiert hat – ist ein psychohygienisches Rätsel. Und ein Symptom. Aber für was? Gab es im deutschen Journalismus eine moralische Ruck-Rede? War es die Sehnsucht nach dem guten Prinzen? Oder schmerzt einfach die herbe Enttäuschung, dass es wieder nur ein Frosch ist?“ Gehen wir kurz den Symptomen nach, um dem physischen Momentanzustand unseres Landes und uns Bürgern auf die Schliche zu kommen.

Symptom 1: Wir schrumpfen die Krise

Die Krisen häufen sich: Finanzkrise, Bankenkrise, Euro-Krise. Europa ist bedroht. Die Weltwirtschaft. Die Medien hyperventilieren nun schon seit Monaten im schrillsten Tonfall des Alarmismus. Wir sind inzwischen dagegen immun geworden, wir trotzen der Krise und kaufen, kaufen, kaufen. Aber wirklich perfekt hilft dagegen die Ablenkung durch eine Wulff-Krise, deren liliputaneske Dimension wir nicht fürchten müssen. Eine Krise, die wir beurteilen können, weil wir die Verfehlungen, die wir anklagen, selbst gut kennen, weil wir sie selbst schon begangen haben – oder zumindest gerne begangen hätten. (Gratisurlaub, Upgrade, Schnäppchen, Freunderl-Dienste…)

Wir wählen uns die Krise nach unserem Gusto und portionieren sie so, wie es uns behagt. Wie befreiend, wie beruhigend, wie genüsslich ist es, sich die Krisenlandschaft so gesund zu schrumpfen. Das geht ganz leicht. Denn das Internet ist dafür der ideale Hysterie-Boiler. Ein paar spärliche Fakten, viel Moralin, ein paar Spritzer Hohn – und ganz viel präsidiales Selbstverschulden: Fertig ist die ideale Krisen-Schrumpfung über die Feiertage.

Symptom 2: Die Getriebenen der Meute

Der Hysterie-Boiler funktioniert so gut, weil die Medien sich von der Bloggeria massiv getrieben fühlen. Noch einmal Wolfgang Michal zitiert: „Nicht die Blogger und Twitterer haben sich den Leitmedien angepasst, sondern die Leitmedien den Bloggern und Twitterern. Herausgefordert durch deren kräftige (oft populistische) Sprache, greifen nun auch etablierte Medien immer häufiger zu drastischen Begriffen und Vergleichen, fordern eilends Rücktritte und rigorose Konsequenzen, und zelebrieren die unfreiwilligen Abgänge aus dem öffentlichen Leben als reinigende Buß- und Sühneopfer fürs Volk.“

Die Medien erleben sich immer mehr als Getriebene der Meute des Realtime-Journalismus bzw. der Realtime-Kolportage. Es muss extrem frustrierend sein, etwa als Printjournalist mitzuerleben, wie das eigene Produkt frisch aus der Druckpresse am Morgen rettungslos veraltet ist und schon längst neue Fakten vorliegen, ersatzweise neue Mutmaßungen, und der Diskurs über ein Thema längst schon viel weiter ist. Die Elite der Blogger hat den meisten Journalisten längst die Meinungshoheit abgejagt. – Den  TV-Leuten geht es nicht besser. Sie hetzen sinnlos Bildern hinterher, die nur noch überholte Tatsachen bebildern können. Im übrigen neigt man zunehmend dazu, „Facebook“ oder „Twitter“ zu zitieren als wären sie verlässliche Presseagenturen.

Symptom 3: Klassenkeile für Hierarchen

Wer es aus der Provinz ganz nach oben geschafft hat, mit all den Privilegien und Vergütungen, der ist unausweichlich Opfer unserer Neidgesellschaft. Vor allem, wenn einem wie Wulff das nicht reicht und man noch bei reichen Freunden Urlaub in allem Luxus machen muss oder sich von ihnen Kredite aufdrängen lässt. Aber es steckt da noch mehr dahinter: Wulff-Bashing ist immer zugleich auch Hierarchie-Bashing. Hierarchien werden flacher, das heißt, der Abstand nach oben ist geringer geworden. Das heißt, dass immer mehr nach oben kommen, ohne die nötige Qualifikation zu haben – da ist Christian Wulff das passende Abwatsch-Modell. Er ist Präsidenten-Darsteller wie viele leitende Manager lediglich Chef-Darsteller sind.

Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass sich immer mehr berufen fühlen, ganz nach oben zu kommen. Das untergräbt die natürliche Autorität von jedem, der oben ist, nachhaltig. Und weil es dann doch heikel und selten Karriere fördernd ist, den eigenen Chef anzumachen, kommt Wulff als Ersatzkandidat dafür gerade recht. Er ist der ideale Mann für befreiende Klassenkeile. An ihm kann man alle Aggressionen, Ressentiments und Frustrationen, die man in einem Berufsjahr so ansammelt, wunderbar abbauen. Daher die Moralinsäure, daher die Häme, daher der fast augenzwinkernde Sarkasmus. Und Wulff mit seiner unsäglichen PR-Taktik sorgte auch noch dafür, dass die Affäre dauerhaft am Leben erhalten blieb. Was für ein willkommenes Purifikations-Ritual des kleinen Mannes, passend für die Feiertage!

Symptom 4: Anti-autoritäre Reflexe.

Gemeinsam sind wir stark. Das ist die Erfahrung, die die Baby Boomer von Kindesbeinen an reichlich in einem antiautoritären Klima machen konnten. Und nie zuvor konnte man wieder so schnell und so machtvoll Gemeinsamkeit organisieren und dialogisch feiern wie heute. Aber eben auch Gemeinheiten. Schwarm-Intelligenz ist das gern bemühte Schlagwort. Es gibt aber auch Schwarm-Impertinenz, Schwarm-Penetranz, Schwarm-Perfidie oder Schwarm-Intrige. Ein selbst verstärkender Prozess mit ungeheurer Schlagkraft.

Ein Christian Wulff hatte keine Ahnung, welch Wucht solch ein Prozess entwickeln kann, wenn er nicht rechtzeitig und mit den richtigen Mitteln gestoppt wird. Er hingegen verstärkte und prolongierte mit seinem ungelenken Umgang mit der Öffentlichkeit diesen Prozess. So war der höchste Repräsentant, die höchste Autorität des Staates zur Abrechnung frei gegeben. So konnte dann die eine, ältere Generation (Baby Boomer) ihre fast schon vergessenen antiautoritären Reflexe noch einmal ausleben. Und die junge Internet-Generation (Digital Natives) durfte erstmals dieses Vergnügen auskosten, Riesen zu Zwergen schrumpfen zu sehen, joviale Gesichtszüge in Tagen um Jahre altern zu lassen, schlicht indem man die Autorität als nicht vorhanden (virtuell) behandelt.

Deutschland zu Beginn des Jahres 2012: ein virtueller anti-autoritärer Kindergarten. Die Kinder amüsieren sich prächtig, die Leitungsebene aber versteht die Welt nicht mehr. – Aber das ist ihnen ja inzwischen zur Gewohnheit geworden…

Paid Content (1)


Warum es keinen Sinn macht, Nutzer im Netz zur Kasse zu bitten  

Das war der Titel meiner kurzen Intro-Präsentation zur Diskussion zum Thema „Paid Content“ heute auf der Internet World in München. Moderator Michael Geffken (VDZ Zeitschriften Akademie/Leipzig School of Media) hatte dazu Christoph Keese, den Konzerngeschäftsführer Public Affairs der Axel Springer AG, René Kühn, den Geschäftsführer der Contilla GmbH, und eben mich auf die Bühne geladen. In der Folge ein kurzer Abriss meiner Argumentation (Die Slides dazu finden sich hier: Warum es keinen Sinn macht… )  

Am Anfang steht das Paradox: Wir investieren immer mehr Zeit für die Medien und geben dafür immer mehr Geld aus. Dabei sind im Internet die allermeisten Inhalte gratis. Unser Geld kommt also nicht bei den Produzenten der Inhalte an, sondern bei Netzbetreibern, Aggregatoren (Google &Co.) und anderen. Die Medienhäuser leiden: Die Auflagen gehen zurück, die Werbeumsätze schrumpfen massiv, die Gewinne schwinden. Die Folge: Redakteure werden entlassen – und damit werden die nächsten Konkurrenten auf dem Gratismarkt geschaffen, wenn diese Journalisten zu Bloggern werden.  

Ist da Paid Content, also die Bezahlung für einzelne Artikel oder per Abogebühr, die Lösung? Ich denke nicht. (Und deswegen war ich ja auch eingeladen…) – Zunächst muss man bei Content unterscheiden, worüber man spricht. Da werden munter Äpfel mit Birnen verglichen. Selbst die größten Bezahlungs-Apologeten geben zu, dass der Großteil von Inhalten niemals eine Bezahlung wert wäre. Nur spezieller Content und alle Inhalte, die keine große (Gratis-)Konkurrenz haben, können überhaupt je vermarktet werden.  

Lebenslügen des Publizismus  

Die Diskussion um Bezahltinhalte werden gerne von großen, hehren Mythen von Sinn und Verantwortung journalistischer Arbeit belastet. Diese Mythen, die oft eher „Lebenslügen“ sind, wollte ich vorweg einmal provokativ in Frage stellen:  

  • Leser zahlen nicht für ihre Zeitung, bestenfalls für deren Distribution. Chris Anderson hat in seinem Buch „Free“ sehr gut skizziert, dass die Zeitschrift WIRED, für die er als Chefredakteur verantwortlich ist, jederzeit auch gratis erscheinen könnte. Der Copypreis sorgt nur dafür, dass den Anzeigenkunden eine genau definierte, attraktive Zielgruppe präsentiert werden kann. – Und längst gibt es klandestine Gratisprintprodukte auf dem Markt: die Boulevardzeitungen aus stummen Verkäufern, Gratismagazine in Flugzeugen, Auslandsexemplare, Verschenkauflagen etc. – nur so können Anzeigenkunden attraktive Auflagen garantiert werden.
  • Qualitätsjournalismus ist nicht so teuer, wie gerne getan wird. Ich kenne Schätzungen, dass höchstens 40 % der Kosten eines Medienhauses von Redakteuren verursacht werden. Der Rest geht für die Alimentierung der Verwaltung und des Managements drauf.
  • Investigativer Journalismus, der so gerne als per Pay-Schranke schützenswert ins Feld geführt wird, kostet gar nicht viel. Nur ganz wenige Medienhäuser leisten sich solchen Luxus überhaupt, und dafür werden nur Promille der Gesamtetats ausgegeben. Investigative Arbeit, das weiß ich aus eigener Erfahrung, kostet nicht viel Geld, sondern nur viel Zeit, Geduld und Durchhaltevermögen. Nur die immer möglichen rechtlichen Auseinandersetzungen fordern dann gute (teure) Anwälte und finanziellen Rückhalt, wenn Konzerne mit ihren Anwälten und hohen Schadenssummen drohen.
  • Presse funktioniert auch nur noch bedingt als 5. Macht, sie kontrolliert die Mächtigen nur bedingt. Das Raumschiff Berlin schweißt zusammen. Das Versagen als 5. Macht hat die Finanzkrise zuletzt eindrucksvoll bewiesen. Wo waren die Warnungen der Wirtschaftspresse vor den Untaten der Finanzspekulateure?
  • Journalisten haben auch keine Aufgabe als Navigatoren. Das Bild ist falsch, da hierarchisch. Journaille muss lernen, Partner der User zu sein und nicht mehr von oben herab „Unwissende“ zu belehren.
  • Die wichtigen Themen werden heute immer seltener von der etablierten Presse angestoßen. Sie entstehen heute viel öfter im Netz (Real Time!) und wandern erst dann in die Medien und werden da (dankenswerterweise!) verstärkt.
  • Mit Paid Content wird versucht, das bisherige Businessmodell der Medien irgendwie noch zu erhalten. Das war einfach: Anzeigen- und Verkaufserlöse sprudelten reichlich. Damit ist es aber nun vorbei. Jetzt heißt es neue, sicher komplexere – und vielleicht auch weniger ertragreiche – Businessmodelle zu finden, zu etablieren und zu optimieren.
  • Werbung ist auch nicht mehr das Schmiermittel der Wirtschaft. Viele Firmen sind nahezu erschrocken, wie wenig die Umsätze eingebrochen sind, als sie, bedingt durch die Finanzkrise, ihre Marketingausgaben drastisch zurückgefahren haben. Sie investieren daher jetzt lieber in Social Media und die Intelligenz ihrer eigenen Websites, immer mehr auch in (Corporate) Content.
  • Online lassen sich nicht nur „lausige Pennies“ (Zitat Hubert Burda) verdienen. Die Pennies summieren sich gar nicht so schlecht, wenn man diversifiziert und neue, kreative Erlösmodelle findet.
  • Und von wegen: Medien spiegeln unsere Gesellschaft. Allzu oft spiegeln sich die Medien nur gegenseitig oder die (manchmal mangelnde) gesellschaftliche Verwurzelung der Redaktionen.

Trend-Check  

Es stehen auch eine Menge gesellschaftlicher Trends massiv der Idee entgegen, im Internet mit bezahlten Inhalten gutes Geld verdienen zu können.  

  • De-Advertising: Die Widerstände gegen Werbung werden immer größer. Der so genannte „Sägezahneffekt“ wird immer deutlicher. Nach Investitionen ins Marketing zogen früher die Verkäufe deutlich und nachweisbar an – und gingen danach nur allmählich zurück. Heute ist die Wirkung geringer und bricht innerhalb kürzester Zeit massiv ein.
    Sao Paulo ist die erste Stadt ohne Werbung. Der Bürgermeister hat alle Plakate, Hausbemalungen und Neonreklamen verboten. Die Zustimmung der Bevölkerung zu dieser Maßnahme: 70%!

     

    Nutzer wehren sich auch ganz aktiv gegen Werbung, mit technischen Mitteln wie Werbeblockern und digitalen TV-Rekordern – oder auch mental. Werbung wird gar nicht mehr erst wahrgenommen. Das kann  man bei Usability-Tests oft feststellen, wie Werbung in der Wahrnehmung erfolgreich ausgeblendet wird.  

  • Lese-Hemmung: Junge Mediennutzer lesen nachweisbar immer weniger. Schuld daran ist die beobachtbare Umwandlung ihres Gehirns in ein so genanntes „Erregungsgehirn“. Damit können perfekt optische Reize verarbeitet und dekodiert werden und Multitasking betrieben werden. Für die Umwandlung abstrakter Informationen (Text) in Bilder ist es weniger geeignet. Daher empfinden Digital Natives bloße Textseiten real als „Stress“.
  • Digitalisierung: Die Digitalisierung erfasst in Zukunft nach und nach alle Branchen und wird sie grundlegend verändern. Nur das große Kapital und ihre Scheu vor Risiken und Liebe zu Überkommenem (vor allem bewährten Erlösmodellen) bremst diese Entwicklung. (So jedenfalls führte es zuletzt Google-CEO Eric Schmidt aus.)
  • De-Hierarchisierung: Die Digitalisierung, Social Media und Real Time-Medien schleifen durch ihre Informations-Offenheit Hierarchien weitgehend ab und schaffen flache, durchlässige Strukturen. Das kann man als Demokratisierung preisen und als Verflachung verteufeln. Fakt ist, dass alte Machtstrukturen nachhaltig geschleift werden.
  • Networking: Die neuen, flachen Strukturen funktionieren in eng verwobenen Netzwerkkonstruktionen und lassen durch ihre umfassende Konnektivität Kollaborationen besonders effektiv und erfolgreich sein. Crowd-Sourcing steht so gesehen erst am Anfang seiner Entwicklung. Verstärkt werden die Netzwerke noch durch den Creative Surplus, den kreativen Mehrwert der Menschen, die entdecken, dass sie ihre umfangreiche Freizeit statt in Passivität (TV!) weit sinnvoller und befriedigender Online-Aktivitäten widmen können. Der Wiki-Kosmos wird durch sie wachsen und an Bedeutung gewinnen.
  • Realtime: Alles, überall und sofort. Gegen diese geballte Kraft der Jetztzeitigkeit kommen die etablierten Medien kaum mehr an. Real Time ist der erste spürbare Effekt einer engen Vernetzung. Fragt sich, ob so auch prognostische Effekte jenseits der Gegenwärtigkeit möglich werden könnten.
  • Individualisierung: Der größte und einflussreichste Trend der letzten 60 Jahre wird auch in Zukunft weiter florieren. Die Social Networks machen eine ganz andere Ich-Erfahrung und Ich-Darstellung möglich. Ein weiterer Schritt in die Narzisstoisierung unserer Gesellschaft ist absehbar. Extrem viele neue Nischen entstehen mit eigenen (auch wirtschaftlichen) Mikro-Ökosystemen, der Long Tail individueller Ausgestaltungsoptionen wird noch immens wachsen.

Fortsetzung folgt: Teil 2 von Paid Content erläutert dann die Implikationen der Trends auf die Medienmärkte der Zukunft – und die Endlichkeit der Perspektive von Bezahlinhalten.

Walfischtran & Mittelmanagement


Das Ende von erfolgreichen Businessmodellen

Ich wohne nicht weit von dem – heute – durch sein Weißbier weltbekannten Städtchen Erding (vor München). Erding war im 19. Jahrhundert eine durchaus wohlhabende Stadt. Im Zentrum lag die Schranne, der Getreidemarkt, wohin alle Bauern Ostbayerns das Getreide für die Landeshauptstadt München brachten. Hier wurden Weizen und Roggen gehandelt und dann in gewaltigen, mehrspännigen Pferdefuhrwerken nach München hinunter gebracht. Der Handel, die Fuhrunternehmen und die Pferde bescherten Erding damals ein schönes Wohlergehen.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde dann die Eisenbahn bis Erding gebaut. Und vom Tag der Fertigstellung an hatten die Pferdefuhrwerke ausgedient – und Erding als Handelsort. Es folgten lange Jahrzehnte der Armut und des Mangels, bis wiederum ein neues Verkehrsmittel der Region neuen Wohlstand, niedrige Arbeitslosenraten und heftige Zuwanderung bescherte: der Flughafen München II im Erdinger Moos.

Eine ähnliche Geschichte von disruptiven Änderungen, die ganze Wirtschaftszweige düpieren und komplett ummodeln, erzählt Brian Eno, die Musiker- (Roxy Music) und Produzenten-Legende (David Bowie, Talking Heads, U2, Coldplay u.v.a.). In einem Interview mit der BBC schildert er sehr gelassen den Niedergang der Platten- und Musikindustrie:

„Schallplatten waren auch nur eine Blase für eine gewisse Zeit und die, die davon profitieren konnten, hatten viel Glück. Aber es gibt eigentlich keinen rationalen Grund, warum man so viel Geld durch den Verkauf von Platten machen kann. Außer das damals die Zeit dafür genau richtig war. Ich wusste immer, dass das irgendwann zuende sein wird. Mir macht das nichts aus und ich finde es gut, wie es ist. Das ist ähnlich wie um 1840 herum, als Walfischtran als Brennstoff verwendet wurde. Damals waren die Tran-Händler mit die reichsten Menschen auf Erden. Aber als dann das Gas aufkam, war es damit vorbei. Sorry, Jungs, aber so funktioniert Geschichte, es geht immer weiter. Und Musik auf Platten ist heute wie Walfischtran. Sie wird gnadenlos durch etwas anderes ersetzt.“

Die disruptive Kraft des Digitalen

So ist das, wenn neue Technologien kommen und sich durchsetzen. So ist es, wenn disruptive Entwicklungen ganze Branchen quasi über Nacht von Grund auf umkrempeln. Ich erinnere mich gut, wie 1994/1995 alle großen Verlagshäuser ins Internet investiert haben. Moderat zwar nur, aber in ihrem Verständnis hochwaghalsig, schließlich befürchteten sie (zu Recht) Kannibalisierungseffekte.

Aber der Versuch, das neue Medium in ihrem Sinne zu bändigen, war es allemal wert. Immer noch besser als die wenigen, aber attraktiven Kunden, die das Internet damals begeisterte, an „Garagenfirmen“ zu verlieren: als da waren Yahoo, Netscape, AOL, Altavista… (Google kam erst sehr viel später.) Der Versuch war es wert, aber er konnte nicht gelingen, weil wir alle nicht die disruptive Kraft der Online-Digitalität in seiner letzten Konsequenz erkannt haben. (Oder behauptet das jemand von sich? Bitte melden!)

Der Effekt ist ebenso eindeutig wie brutal. Seth Godin, Marketing-Guru (oder -Papst – je nach Glaubensmuster), hat das in seinem Blog knallhart beschrieben: „Wer rettet uns? Wer rettet das Buchbusiness? Wer die Zeitungen? – Was heißt hier retten. Meint das: ,die Dinge sollen bleiben wie sie sind‘? Dann ist die Anwort: Nichts wird uns retten. Es ist vorbei. Wenn es meint: ,wir wollen die Jobs der Presseleute, der Laufburschen und der Legionen an Buchhaltern, Verpackern, Logistikern und Hilfsredakteuren retten‘. Auch dann ist die Anwort: Keine Chance. Da hilft kein Kindle, kein iPad und kein Parlamentsbeschluss. (…)

Wenn es aber darum geht, die Freude am Lesen zu retten, oder die Wirkung von brandheißen News oder die Freude, wenn man durch eine Idee in einem Buch in seinen Grundfesten erschüttert wird, dann keine Sorge. Das braucht man nicht zu retten! Das bleibt und wird sich um den Faktor Zehn verstärken, wenn wir aufhören, unsere Kräfte beim Retten von Unrettbarem zu vergeuden. – Jede Revolution wird zuerst den Mittelbau zerstören, und zwar äußerst heftig.“ (frei übersetzt)

Es geht um Inhalte, nicht um Strukturen

Er hat so recht. Alle großen Medienhäuser, ob öffentlich rechtlich oder privat, ob TV oder Print, haben viel zu viel Ballast. Verwaltungen, Anzeigenakquise (was soll das in Zukunft?), (Mittel-)Management und Verwalter von inhaltlichem Mittelmaß. Es geht darum Inhalte zu bewahren, aber nicht darum Strukturen zu retten. Die wirklich gute Presse, die Top-Nachrichtenleute, die Analytiker, die investigativen Journalisten, die grandiosen Geschichtenerzähler, die Bildkünstler und genialen Gestalter, sie alle sind in der Minderheit. 

Diese rare Spezies zu ernähren – und zwar durchaus respektabel – wird nie ein Problem sein. Dafür ist das Bedürfnis für gute Inhalte, faszinierende Reportagen, gute Filme und entlarvende Features viel zu groß. Der Medienkonsum hat explosiv zugenommen. Die Medienkompetenz auch (wenn auch sicher nicht genug). Es wird so viel Geld für Medien ausgegeben wie noch nie zuvor.

Ein Businessmodell hat absehbar ausgedient. Mit ihm hat man lange gutes Geld gemacht. Aber halt nur, weil es die richtige Zeit dafür war. Jetzt kommt/kam die Disruption. So wie für Pferdefuhrwerke und Walfischtran. Und es trifft zumeist zuerst den Mittelbau von Firmen. Das muss so sein in einem Zeitalter des Abbaus von Hierarchien. Die Oben und die Besten bleiben, weil sie gut sind und/oder die Macht haben. Die unten überleben, weil sie so wenig kosten. Dazwischen aber wird es eng. Sehr eng.

Flache Hierarchien


Mehr Unsicherheit und breitere Armut

Das Internet baut Informations- und Macht-Hierarchien ab und damit viele, alte Vertriebs- und Rendite-Strukturen.

Bildlich kann man sich die verschiedenen Hierarchie-Typen gut als Pyramide vorstellen. Einst waren sie hoch und steil. Es gab verschiedene, klar unterscheidbare Schichten.

Werden die Hierarchien flach, wird diese Pyramide von oben her in die Breite gestaucht. Das sieht auf den ersten Blick sehr schön aus. Die Distanz zwischen Oben und Unten wird deutlich geringer, die verschiedenen Schichten dazwischen verschwimmen und lösen sich auf. Das alles wird durchlässiger.

Das Bild kann man aber auch anders sehen. Die unterste Basis wird in die Breite gedrückt. Das heißt, der untere Rand der Gesellschaft wird größer. Und die massive einstige Mittelschicht wird nach unten und in die Breite gestaucht. Schon in diesem Bild sieht man die Auflösung der Mittelschicht.

Und da der Abstand zwischen Oben und Unten kleiner geworden ist, wird auch die Angst derer oben, nach unten durchgereicht zu werden, größer.

Aus diesem Bild sieht man sehr gut die Chancen und Probleme der digitalen Gesellschaft. Es wird alles durchlässiger, und die Chancen werden größer (oder breiter), aber zugleich schwindet die Mittelschicht und die Risiken werden größer.

Unsere Gesellschaften haben sich aus steil hierarchischen Systemen entwickelt. Die Umstellung auf flache, breite Hierarchien ist schwierig, risikoreich und oft unangenehm. Kein Wunder, dass die (Phantom-?)Schmerzen so verbreitet sind und die Widerstände vor allem derer, die viel zu verlieren haben, so massiv sind.

Das wird uns noch bis in die Zeit begleiten, in der die Digitalität Normalität und Selbstverständlichkeit ist. Also die nächsten fünf bis zehn Jahre.