Grusel & Faszination – Die Zukunft der Heilmethoden


Wir werden komplett verdrahtet und so 100 Jahre und älter

Ich habe den Grusel-Test erst wieder bei einigen Vorträgen gemacht. Die Aussicht, dass in nicht allzu ferner Zukunft unser Gehirn direkt mit dem Internet verkabelt sein könnte, weckt wirklich schaurige Urängste. Verständlich, keine Frage. Die Angst vor der Aufgabe der persönlichen Wesens-Autonomie und der Übergang zu einem fremdgesteuerten humanoiden Roboter ist nachvollziehbar. Und natürlich.

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Aber es nützt nichts. Man muss sich die Entwicklung unserer Wohlstandsgesellschaft nur mal genauer ansehen und alle Symptome unbarmherzig analysieren. Nimmt man dazu  steuert, dann ergibt sich ziemlich deutlich aber gerade dieses Szenario: die Vernetzung möglichst vieler Menschen direkt bis in die Neurozellen im Gehirn hinein.

Eine Parforce-Jagd in die Zukunft

Ich versuche mal, den möglichen Weg in eine derartige Zukunft in einem knappen Thesen-Gewitter zu zeichnen. Der Startpunkt solch einer Reise in die Zukunft startet bei unserer derzeitigen gesellschaftlichen Befindlichkeit. Die suchtartige Verbreitung von Gluten- und Laktose- und sonstigen Unverträglichkeiten hat Meike Winnemuth wunderbar in ihrer STERN-Kolumne beschrieben.

Der Trend zur höchst eigenen, ganz persönlichen gesundheitlichen Malfunktion ist in einer narzisstischen Gesellschaft nur allzu logisch. Durch nichts kann man sich mehr von den anderen abgrenzen als durch eine ganz ureigene medizinische Disposition. Und durch nichts kann man sich, wenn man den Kontakt zum eigenen Ich und Körper verloren hat – was die Grunddisposition jeder narzisstischen Störung ist – wieder besser spüren als durch eine Fehlfunktion, und sei sie auch nur eingebildet. Dass sie wirkt, dafür sorgt verlässlich der Nocebo-Effekt.

Und die Situation wird sich in den nächsten Jahren noch verschlimmern oder soll man sagen qualitativ weiter entwickeln: Schon in allernächster Zeit wird die Untersuchung des eigenen Genoms weniger als 1.000 Euro kosten – und kurz darauf nur noch etwa 100 Euro. Die wissenschaftliche Entwicklung hat die Preise dafür in ganz wenigen Jahren extrem minimiert.

Brisantes Wissen um die persönlichen Schwachstellen

Dann gibt es kein (Kosten-)Argument dagegen, seine höchst eigenen Schwachstellen und damit Risiko-Areale analysiert zu bekommen. Dann wird jeder seine wirklich höchstpersönlichen Malaisen-Optionen kennen. Und es werden ganz viele Menschen diese Untersuchung machen lassen. Die Angst, sein eigenes potentielles medizinisches Schicksal zu kennen wird mit dem Versprechen konterkariert werden, nur auf diese spezielle Weise ganz alt werden zu können – und das ohne Krankheiten, die die Lebensqualität bis jenseits der 100 Lebensjahre einschränken würden.

Schon heute ist absehbar, dass eine tatsächlich wirksame Krebstherapie hoch personalisiert sein wird. Das funktioniert nur mit einem genauen Wissen um die genetische Disposition. Und deshalb werden auch die Krankenkassen Druck machen. Schon heute finanzieren sie Gentests, um bei Frauen das Brustkrebs-Risiko zu klären. Und künftig wird der Krankenkassen-Tarif für Menschen, die sich einer Genanalyse verweigern, deutlich höher sein als für den genvermessenen Menschen.

Nichts kränkt Narzissten mehr als die Aussicht auf den Tod

Wir werden uns aber auch nicht groß wehren. Denn die Aussicht, bei voller körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit 100 Jahre und älter werden zu können, wird unsere Gesellschaft nachhaltig faszinieren. Denn auch hier laufen wir in die Narzissmus-Falle, da jede Krankheit, die unser Wohlbefinden und unsere Leistungsfähigkeit einschränken (Schlaganfall, Unfälle etc.), als grobe narzisstische Kränkung wahrgenommen wird. Ganz zu schweigen von der größten, ultimativen narzisstischen Kränkung, dem Tod. Schon heute sind wir eine Gesellschaft, die mit Krankheit und Tod nicht mehr gut umgehen kann. Und das wird sich noch dramatisch verschlimmern, wenn uns ein Ausweg in Aussicht gestellt wird: die Genom-Untersuchung – und völlig neue Heilungschancen.

In kaum einer anderen wissenschaftlichen Sparte kann man in den nächsten Jahren so bahnbrechende Neuentwicklungen erwarten wie in der Medizin. Schlicht schon deshalb, weil das Gesundheitswesen weltweit die Sparte mit immensen Gewinnmöglichkeiten ist. Wir geben überall immer mehr Geld für Krankheiten und deren Gesundung aus. Die Gründe sind nicht zuletzt die oben schon erwähnten. Entsprechend viel Geld fließt in die Entwicklung auch völlig neuer Heilungsmethoden.

Neue Technologien der Heilung

Wir werden in den nächsten Jahren neue Heilmethoden mithilfe von Nanopartikeln erleben. Die Stilllegung von Tumoren mithilfe von Nanopartikeln ist heute schon Realität. Wir werden immer bessere und personalisierte Prothesen bekommen (3-D-Printing). Wir werden auch Organe mit körpereigenem Zellenmaterial züchten können. Ausgerechnet die Leber wird wohl als erstes Organ mit körpereigenem Material ersetzt werden können. Und wir werden eine immer mehr personalisierte Medikamentation bekommen, die genau dort wirkt, wo sie der einzelne Mensch braucht.

Einer der vielversprechendsten Märkte wird aber der Kampf gegen den Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit sein. Mit zunehmender Lebenserwartung (jenseits von 100 Lebensjahren) wird der der Kampf vor allem gegen altersbedingte Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Demenz und auch gegen Folgeschäden eines langen Lebens wie Schlaganfall- und Unfallfolgen, also auch gegen Lähmungen und Wahrnehmungsdefizite, geführt werden.

Erschütternde Heilerfolge

Schon heute können bei bestimmten Dispositionen schwerhörige oder sogar gehörlose Menschen mit direkt im Gehirn implantierten Sensoren wieder hören. Wer einmal erlebt hat, wie nach einen Gehörsturz mit ein wenig Glück wieder das Hören zurückkommt, weiß welch Rückkehr von Lebensqualität das ist. Inzwischen wird auch daran experimentiert, Blinden mit Implantaten im Gehirn das Sehen wieder zu ermöglichen.

2005 beschrieb das Magazin WIRED, wie ein Paraplegiker mit einem Gehirnimplantat wieder aktiv handeln konnte. Auch bei Parkinson werden heute schon mit von außen steuer- und programmierbaren Implantaten direkt im Gehirn große Erfolge erzielt. Die Geschichte eines Parkinson-Patienten (und WIRED-Autors) erschütterte mich regelrecht beim Lesen. Denn immerhin konnte er dank dieser Therapie wieder schreiben: nämlich die Geschichte seiner peinvollen Therapie.

Das Tabu der Köperschranke zum Internet wird brechen

Mit jedem dieser Fortschritte gegen die Krankheitsgeiseln des hohen Alters, also Alzheimer, Parkinson und Demenz wird unser – natürlicher – Widerstand gegen solche Therapien schwinden. Mit jedem Blinden, der wieder sehen kann. Mit jedem Tauben, der wieder hören kann. Mit jedem Gelähmten, der wieder gehen kann. Und sie alle werden Implantate im Gehirn haben, die direkt auf die Nervenzellen des Gehirns wirken.

Und irgendwann wird dann das Tabu der „natürlichen“ Grenze zwischen menschlichem Körper und Gehirn und der digitalen Welt gebrochen sein. Dann werden Implantate so selbstverständlich sein wie heute künstliche Hüften: mit einem Hauch von Angst belegt, aber weithin gesellschaftlich akzeptiert. Und von dort ist der Weg zur Nutzung von Brain-Implantaten auch jenseits von Krankheitstherapien nicht mehr weit. Denn wo endet die normale Vergesslichkeit und beginnt die Demenz? Und warum sollen wir unser Wissen und Erinnerungsvermögen nicht gleich direkt per Standleitung ins Gehirn an Google outsourcen?

Zynisch – aber wahr. Das einzige Gegenmittel gegen solch eine Vision des direkt digital verdrahteten Menschen ist ausgerechnet die NSA und ihre schätzungsweise unausrottbare (und unkontrollierbare?) Spionierlust. – Wer möchte sich schon in seinen ureigensten Neuronenschaltkreisen ausspionieren lassen? Womöglich in Regionen, in denen unser eigenes Bewusstsein selbst gar keinen Zutritt hat: im limbischen System, im Unterbewusstsein. – Ach ja, davon hat das Marketing schon immer geträumt…

Placebo vs. Nocebo


Neu im Psycho-Angebot: Posttraumatic Embitterment Disorder

Die sonst temperamentvoll miteinander konkurrierenden Pharmazeutik-Firmen haben sich doch tatsächlich zusammengetan, um mit vereinten Kräften einem Phänomen auf die Spur zu kommen, das ihre Geschäftsgrundlage zu gefährden droht. Sie finanzieren gemeinsam ein großes Forschungsprojekt, um verstehen zu lernen, wie und warum die Selbstheilungskräfte der Menschen immer besser und wirksamer werden.

Das Dilemma der Pharmazeuten ist, dass in den Blindtests, die für neue Medikamente und Therapien zwingend vorgeschrieben sind, bei denen nebeneinander die neuen Wirkstoffe mit gleich aussehenden, wirkstofffreien Mitteln verglichen werden, die Placebos immer öfter mindest ebenso gut, wenn nicht besser als die Medikamente wirken. Placebos sind sozusagen die neuen Wundermittel. (Wenn das bloß nicht unsere Gesundheitspolitiker spitz kriegen!)

Aber auch hier gilt es zu differenzieren. Placebo ist nicht gleich Placebo. Die Placeboforschung hat bislang unter anderem herausgefunden, wie die Zeitschrift WIRED im September letzten Jahres berichtete, dass gelbe Zuckerpillen gut gegen Depressionen helfen, rote dagegen anregend wirken. Grüne Pseudo-Pillen helfen gegen Angst, weiße gegen Übersäuerung. Und wie im richtigen Leben helfen mehr Placebos besser als weniger. Und Markennamen auf den Fake-Tabletten helfen auch mehr, und je besser die Marken klingen, um so besser.

Die faszinierende Wahrheit dahinter ist, dass die Selbstheilungskräfte der Menschen extrem groß sind. Der Arzt, der mir mal spät abends an der Hotelbar nach der Einnahme von reichlich vielen Tinkturen mit dem Wirkstoff Alkohol vertraulich ins Ohr brüllte, hat anscheinend recht: „97 Prozent der Heilung macht jeder Patient selbst. Nur für den Rest sind wir Ärzte wirklich zuständig.“ Die Patienten sind sich selbst die besten Gesundbeter. Es kommt wohl nur auf den geeigneten Trigger an: Pillen, Nadeln, Coaching – oder auch liebevoller oder strenger – je nach mentaler Prädisposition – Zuspruch. Erinnert sich doch jeder selbst: das Blasen auf Schrammen und Wunden hat in Kinderzeiten doch auch immer prima geholfen.

Nocebo, der Negativ-Placebo

Aber wie das so ist im Leben, der Effekt funktioniert auch umgekehrt. Dann nennt man das den Nocebo-Effekt. (So weit ich mich einnere: nocebo – lat. ich werde schaden.) Und für diesen Effekt sind jetzt weniger Pharmazeutika, sondern eher die immer schlimmer grassierenden Medien-Hysterien und Apokalypse-Szenarien schuld, die so viele Medien für auflagesteigernd halten. Stichwort: Schweinegrippe. Oder Vogelgrippe.

Zu Zeiten vom WIENER haben wir uns dort schon wirksam über Phänomene wie „Pseudo-Aids“ oder das „Waldi-Sterben“ (Umweltschäden bei Haustieren) lustig gemacht. – Was heißt, lustig gemacht. Solche Phänomene waren durchaus medizinisch gut nachweisbar. Leider war mir damals „Nocebo“ noch kein gängiger Begriff – und über Placebos habe ich mich damals noch lustig gemacht. Heute längst nicht mehr.

Ob Behandlung mit farbigem Licht, mit Infrarot, mit Wärme, mit Akupunkturnadeln, mit Globuli oder auch mit Hammermedikamenten. Ich habe alles schon prima wirken gesehen – bzw. selbst erlebt. Ich bin mir aber heute relativ sicher, dass nicht dieWirkstoffe geholfen haben, sondern der Glaube daran. Und da tun sich natürlich hyperkritische Geister schwer. Als im Katholizismus aufgewachsener Mensch (samt Ministranten-Karriere) stehe ich dem natürlich entspannt und aufgeschlossen gegenüber.

Sind wir alle (depresive) Berliner?

Und es hilft in dem Zusammenhang auch in Bayern zu leben. Die Maximen „Wann’s schee macht!“ oder: „Wann’s dann huift!“ waren hier schon immer Volksgut. Nocebos dagegen waren hier seit je her wenig verbreitet. Die wurden, wenn überhaupt, schlimmstenfalls aus dem Norden importiert. Die neueste einschlägige psychische Errungenschaft ist PTED. Die „Posttraumatic Embitterment Disorder“, die posttraumatische Verbitterungs Störung. Dieses Problem, das mit Schlaflosigkeit, Angstzuständen, Depressionen etc. einher geht, wird vor allem in den USA jetzt bei Menschen, die in der Finanzkrise viel verloren haben (Geld, Job, Perspektive) diagnostiziert. Die American Psychiatric Association diskutiert bereits, ob diese Störung in den offiziellen Diagnostik-Kanon aufgenommen wird.

Erstmals wurde PTED aber in Deutschland, genauer gesagt in den Neuen Bundesländern und dort speziell in Berlin entdeckt. Dort unter den Opfern der Wende, unter Arbeitslosen und in der vom Absturz bedrohten unteren Mittelschicht. WIRED beschließt seinen Artikel in der aktuellen Ausgabe über PTED mit dem schönen Fazit: „We’re all Berliners now.“