Mutmachen für die Zukunft


Mein Besuch auf der Blauen Couch

Die Email kam überraschend. Einladung auf die Blaue Couch von Gabi Fischer auf Bayern 1. Zugegeben, ich bin kein sehr eifriger Hörer von Bayern 1, ja generell von terrestrischem Radio. Wenn Radio, dann spezielle Sender aus aller Welt via Streaming, aus den USA (z. B. NRP), aus Großbritannien (immer noch gut: BBC!) oder auch aus dem Nachbarland Österreich (FM4). Natürlich auch mal die jungen Programme des BR.

 

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Dabei halte ich Radio auch weiterhin für unterschätzt. Na ja, vielleicht nicht Radio per se, sondern alle zeitgemäßen auditiven Inhalte, ob Podcasts, Streaming, Hörbücher, Hörspiele, also alles, was informiert, unterhält oder berieselt, ohne dass dafür das Auge in Anspruch genommen werden muss. Dabei geht es nicht nur darum, beim Autofahren ein wenig Ablenkung zu bekommen. Ich finde es auch schön, statt zu lesen, in der S-Bahn zu hören und trotzdem Umgebung und vor allem die umgebenden Menschen beobachten zu können. Nicht immer sind die so unterhaltsam – oder so seltsam – dass man ihnen zuhören muss.

Zukunftsdiskussion als Podcast

Jetzt gibt es auch mich als Podcast. Der Bayerische Rundfunk stellt alle Beiträge der Blauen Couch als Podcasts zum Hören und/oder zum Download zur Verfügung.
Hier der Link zum Podcast auf Bayern1.de. (auch zum Download)
Und hier der Podcast zum Download auf Soundcloud.

Das Thema der Gesprächstunde mit Gabi Fischer war die Zukunft, die Ängste davor – berechtigt oder nicht – und wie man Mut schöpfen kann, die Herausforderungen der Zukunft, die – ziemlich unerbittlich – auf uns warten, meistern zu können.

Schön, das ich ansatzweise die Gelegenheit hatte, im Gespräch auf der Blauen Couch meine Ideen zu einer Art Zukunftsmut kurz skizzieren zu können.

Schritt 1: Evolution akzeptieren & leben

Schritt Eins wäre, sich generell zuzugestehen, dass wir alle Kinder der Evolution, also einer permanenten Fortentwicklung sind. Wir wären nicht Mensch, wohl kaum Lebewesen, gäbe es die Evolution nicht. Also ist stets Veränderung unser typisches Erbgut. Das müssen wir uns einfach eingestehen und akzeptieren. (Man kann ja dann immer noch jammern, dass das alles immer schneller geht, wenn es ohne Jammern nicht geht.)

Schritt 2: Eigene Veränderung lieben lernen

Ein zweiter Schritt wäre meiner Meinung nach, einmal kurz in sich zu gehen und nachzudenken, ob man der, der man vor 10, 20 oder 30 Jahren gewesen ist, auch heute noch gerne wäre. Ich für mich verneine diese Frage entschieden. Ich bin froh, dass ich mich weiterentwickelt habe. Klar habe ich die meiste Mühsal, die Ängste, die ich unterwegs hatte, die peinlichen Momente und die Niederlagen überwiegend vergessen, verdrängt. Die Errungenschaften, die Glücksmomente, die Momente, wo man etwas wider Erwarten geschafft hat, müssen auch erst mühsam hervorgekramt werden. Aber ich bin heute der, der ich früher so nie war. Und das macht mich froh.

Warum nicht diese Haltung auch an die Zukunft anlegen? Klar, es wird oft schwierig werden, es wird Widerstände, Ängste, Niederlagen und unschöne Momente geben. Aber mit ein wenig Glück und Geschick werden auch in Zukunft die positiven Momente überwiegen. Vor allem, wenn wir uns aktiv darum kümmern, wenn wir unsere Zukunft in die Hand nehmen und proaktiv gestalten, anstatt sie uns von anderen ungefragt vorgesetzt zu bekommen: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Nach dem Motto: Friss oder stirb.

Schritt 3: Anpassungsfähigkeit schätzen lernen

Vor allem aber sollten wir uns – und das ist Schritt Nummer Drei – sehr bewusst daran erinnern, welche Mühsal, welche Frustrationen, welche Niederlagen, welche Probleme, welche Verluste wir im Leben schon bewältigt haben. Manchmal vielleicht mit Glück, oft aber sicher auch mit Geschick, oft auch nur mit Geduld und im Laufe der Zeit. Wir übersehen, so wie wir schlimme Momente gnädigerweise schnell vergessen können, zu welchen Leistungen wir fähig sind.

Die Wissenschaft hat in letzter Zeit in vielen Studien und Metastudien (das sind Studien, die Studien zusammenfassen) nachgewiesen, dass die Adaptionsfähigkeit des Menschen ungeheuer groß ist. Zugleich ist aber der Glaube der Menschen daran unvergleichlich gering. Wir unterschätzen uns und unsere Fähigkeit, Änderung und Wechsel nicht nur auszuhalten, sondern auch zu bewältigen. In Wahrheit genießen wir es sogar – mit Ablauf der Zeit, und im gnädigen Blick zurück sind wir dann manchmal sogar stolz darauf.

Inertia, die Lust und Manie der Beharrung

Die zwei Gegner unseres Anpassungstalents sind die Angst und die sogenannte Inertia, das uns innewohnende Beharrungsvermögen, das man vielleicht besser Beharrungslust nennen sollte. Angst haben wir vor Veränderung weniger, weil sie Arbeit und Mühe bei der Anpassung macht, sondern weil wir nicht wissen, ob wir dabei Gewinner oder Verlierer sein werden. Das ist das Wesen jeder Veränderung, dass die Spielregeln und die Spielklötzchen andere sind. Die Gewinner und Verlierer werden neu bestimmt. Und ehe man Verlierer ist, blockiert man lieber die Veränderung. Man verpasst dabei aber auch die Chance, auf der Seite der Gewinner zu sein.

Zudem sind Menschen als solche sehr beharrlich. Wir sind zwar die Motoren der Evolution, sind aber selbst das trägste Moment in diesem Spiel. Die Technik hat sich drastisch verändert. Was im Großen und Ganzen geblieben ist, wie es war, das sind wir Menschen mit unseren Bedürfnissen, unserem Verhalten und unseren Denkmustern. Wir tragen noch heute biologische Grundmuster aus vorhumanen Zeiten mit uns herum (Gänsehaut!), und ähnlich archaisch ist unser Hormonhaushalt (Testosteron, Adrenalin!) und  sind es viele unserer emotionalen Spontanreaktionen. Zugelernt haben wir in erster Linie nur kulturell.

Schritt 4: Zukunftskultur mit klaren Zielen

Daher müssen wir uns eine Zukunftskultur schaffen. Das wäre für mich der Schritt Vier. Wir müssen über Zukunft reden, diskutieren, streiten und dabei Schritt für Schritt weiterkommen. Aber Schritt für Schritt wohin? Wir brauchen Zielvorgaben. Das heißt, wir müssen die möglichen, wichtiger noch die nötigen Veränderungen offen benennen und dann diskutieren, ob das o. k. ist – und vor allem, wie wir dahin kommen. Dafür braucht es vielleicht gar nicht die vielzitierten (und von Helmut Schmidt desavouierten) „Visionen“. Es wäre schon genug, klar zu benennen, wo die Reise hingehen soll.

Solche eindeutigen Zielvorgaben scheut die Politik heute wie der Teufel das Weihwasser. Die Wirtschaft ist da zu Teilen anders, also in den Teilen, die sich zu den möglichen Gewinnern zählen. Die Teile der Wirtschaft, die zu verlieren fürchten, verstecken sich hinter den Politikern und ihrer Beharrungsmanie und stützen sie. Also herrscht ein beliebiges Vor-sich-hin-wursteln, das sich von einer unwichtigen oder übersteigerten Hysterie zur nächsten hangelt.

Zu wünschen wäre eine Politik, die klare Ziele hat. Über die kann man sich austauschen und streiten. Über ein konturloses Allerlei namens „alternativlose“ Realpolitik, kann man das nicht. Das erinnert an ein Fahren im dichten Nebel, in dem man sich nur an den Rückspiegeln orientiert. Da wäre es doch besser, man wüsste, wohin die Fahrt gehen soll.

Wir haben nichts anderes als unsere Zukunft

Angela Merkels „Wir schaffen das“ war in Ansätzen eine solche Zielvorgabe. Nur hätte man gerne gewusst, was sie mit „das“ konkret meint. Und noch schöner wäre gewesen, es wäre auch mal grob skizziert worden wie das geschafft werden soll.

Zukunftsforschung, oder „Zukunftssoziologie“, wie ich das lieber nenne, sammelt und analysiert die Ideen und Optionen, wohin es gehen kann und wie es gehen soll – im Rahmen der bekannten Möglichkeiten, die uns unser Planet und unsere gesellschaftliche Verfassung erlauben. Und sie versucht, Ängste zu nehmen – und Mut zu machen. Wir haben nichts anderes als unsere Zukunft! Also kümmern wir uns gefälligst darum…

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Das Goldfisch-Syndrom


Eine kleine Erklärung der Welt von heute

Wie hält es ein Goldfisch in einem Wasserglas aus? Immer nur im Kreis schwimmen – und von allen beglotzt werden. – Ganz einfach, sein Gedächtnis reicht gerade mal für neun Sekunden. Einmal rund ums Glas braucht aber 10 Sekunden. Also ist jede neue Runde ein neues Abenteuer. Und ewig grüßt das Goldfisch…

Golden fish (Carassius Auratus)  in a bowl

Unser Gedächtnis ist ein wenig besser, als das vom Goldfisch. Aber unsere Fähigkeit, bei einem Thema zu bleiben, sich auf einen Inhalt einzulassen und uns zu konzentrieren ist schlimmer als die vom Goldfisch. Gerade mal 8 Sekunden beträgt unsere Ausmerksamkeitsspanne. In den letzten 15 Jahren hat sie sich halbiert. 2000 waren es noch 12 Sekunden. Das hat eine Konsumentenstudie von Microsoft gerade festgestellt.

Der nahe liegende Kritik-Reflex wäre natürlich, gleich mal wieder den Untergang des Abendlandes zu beklagen samt ausgiebigem Bashing von allem digitalen Teufelswerk unter besonderer Berücksichtigung des Smartphones. Denn wie soll unsere Welt weiter bestehen, wenn wir ihr keine Aufmerksamkeit schenken, oder zumindest nur noch in homöopathischen Dosen. Und was, wenn nur noch das Phone smart ist, aber nicht mehr seine Nutzer?

Kommt eine post-rationalen Zeit?

Aber wir könnten auch einmal das Bild von dem Goldfisch im Glas weiter bemühen. Vielleicht ist die Reduzierung der Aufmerksamkeitsspanne auch eine logische Überlebensstrategie für unseren aktuellen Zeitgeist. Hier mal ein paar gewagte Thesen und Fragestellungen zu einer möglichen postrationalen Epoche:

  • Unser Gehirn, vor allem das der digital Natives, verarbeitet längst in viel kürzerer Zeit auch hoch komplexe Informationen. Daher der Trend zum Bewegtbild. Nur hier lassen sich Informationen optimal verdichten. Sprache – und die ganz besonders in schriftlicher Form von Text – ist viel zu langsam zu verarbeiten. Unser Gehirn ist schon längst einen Schritt weiter.
  • In einer Welt, in dem es keine Wahrheiten mehr gibt, weil Wahrheit und Lüge, Bild und Photoshop-Fake so nah beieinander liegen, wird schlicht Zeit vergeudet, wenn noch langwierig Inhalte rezipiert werden. Vor allem, wenn Fake-News und Foto-Pranks viel attraktiver sind und besser ins eigene Vorurteilsschema passen. Unser Gehirn ist schon mal ins postfaktische Zeitalter voran gereist.
  • Sind wir nicht Gefangene der Aufklärung und ihrer Früchte? Sind nicht Ratio und Logik, Kritik und Wissenschaft, Fortschrittsglaube und Wachstumsfetischismus zuletzt irgendwie in Misskredit geraten, weil diese positiven Werte unsere Gesellschaft in Arm und Reich teilen, weil nur eine kleine Schicht oben die Früchte erntet, ohne Rücksicht auf andere?
  • Sind nicht die Werte der Aufklärung wie Emanzipation und Toleranz strittig geworden? Wie sonst kann man im Kampf gegen solche Werte Wahlen gewinnen? Und wird nicht Freiheit immer mehr als Stress erlebt, als Überangebot an Möglichkeiten und die damit verbundene Verantwortung als belastend?
  • Aber im Ernst. Sind nicht durch den Materialismus und blinden Fortschrittsfetisch die Werte der Aufklärung auch pervertiert worden? Haben wir vor lauter Vernunft und Logik nicht den Zugang zu unserer mentalen Kraft und darüber oft unsere psychischen Gesundheit verloren? Warum sonst nehmen sonst Depressionen so zu? Und warum erleben Tools, die unser Verhalten kontrollieren, solch einen Boom. Früher hat man wohl besser gewusst, was einem gut tut und richtig ist, und das ist jetzt weg?

Gefühlte Wahrheiten fühlen sich gut an

Vielleicht baut sich unser Gehirn gerade um, weg von Vernunft und Logik, weg von Linearität und Literalität. Weg von den Buchstaben der Aufklärung hin zu hochkomplexen multimedialen Informationsschemata, hin zu nur jenseits reiner Logik verstehbaren Realitätsclustern. Daher auch die Zunahme von „gefühlten“ Wahrheiten.

Und wahrscheinlich stehen wir, wenn wir den Gedanken einmal wagen wollen, erst am Anfang solch einer Entwicklung, die vor allem all denen, die noch im Bildungsideal der Aufklärung der vordigitalen Zeit groß geworden sind, schlichtweg graust. Das würde die absurden Auswüchse des aktuellen Siegeszugs der Lüge, der Desinformation und des Ressentiments erklären helfen.

Krisen kündigen neue Zeiten an

Schlimm und schwer vermittelbar ist, dass ausgerechnet Menschen aus dem Vorgestern diese Auswüchse, wie sie an jedem Anfang einer neuen Epoche stehen, so clever und skrupellos auszunützen verstehen. Für Krisenzeiten ist typisch – und 2016 hat jeder als sich selbst beschleunigende Krise erlebt – dass sie eine Veränderung einleite. Und je krisenhafter, desto gravierendere Veränderungen passieren. Neue Zeiten, neue Epochen und evolutionäre Sprünge kündigen sich immer auf solche Weise an.

Bleibt nur zu hoffen, dass die Evolution weiß, was sie da macht. Und dass wir diesem Evolutionssprung gewachsen sind. Dass der Umbau unserer Denkapparate schnell genug geht und dann auch noch in die richtige Richtung… – jenseits eines Goldfisch-Daseins. Obwohl: Sind Goldfische unglücklich?

Sie sollen es besser haben


Donald Trump, das Ende der Evolution?

Also gut, irgendwann war uns das Leben als Einzeller zu langweilig und wir mutierten zu Mehrzellern. Irgendwann war uns auch das Dasein als Amöbe zu langweilig und wir bildeten Organe aus, Gliedmaßen und ein vegetatives System etc. Ja und dann ging’s raus aus Wasser und Sumpf und aufs feste Land. Und dann war es uns zu langweilig auf vier Füßen zu krauchen und wir gingen aufrecht. Und unser Gehirn wuchs und unser Talent zum Denken, zur Sprache und intersozialer Aktion.

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Amöbe bei der Mahlzeit. Mahlzeit!

Alles Quatsch natürlich. Das haben wir nicht aus Langeweile getan, sondern weil wir stets gehofft haben, so die Gefahr zu verringern, gefressen zu werden. Und vor allem glaubten wir, dass wir so bessere Chancen hätten, mehr Nachkommen zu produzieren – die es einmal besser haben sollten als wir selbst. Evolution ist ja kein philosophisches Konstrukt, sondern eine fesche Survival-Methode.

Wir machen uns die Erde untertan

Aber dann kamen doch die Philosophen, vor allem aber Religionsgründer. Und damit kam der Gedanke in Welt, sich die Welt untertan zu machen bzw. vorerst mindestens alle anderen Religionen – und deren Territorien und Menschen. Bis wir es zu Weltkriegen mit Millionen von Toten geschafft haben und dabei wie im Vorbeigehen die ultimative Waffe erfunden haben: die Kernenergie, die uns die Möglichkeit gegeben hat, mit einem einzigen Knopfdruck unsere komplette Welt final auszulöschen.

Wir waren fast schon soweit, diese finale Option erfolgreich zu verdrängen. Nur Nordkoreas Kim-Sippe hat immer mal wieder mit ihren beschränkten (!) Mitteln auf die Option des atomaren Holocaust hingewiesen. Ab sofort ist Kim Jong-un nicht mehr allein auf weiter nuklear verseuchter Flur. Denn President-elect Donald Trump findet atomare Konfliktlösung auch eine bedenkenswerte Option politischen Handelns.

Das Ende der Evolution

Ach ja, Donald Trump. Ist er also der optionale Schlusspunkt der Evolution? Schließlich ist er mithilfe der a-rationalen Kreise der Evolutionsleugner der rechten Republikaner erst zum Präsident geworden. Nicht dass Donald Trump auch die Evolution leugnen würde. Er sieht sich wahrscheinlich in seinem narzisstischen Wahn eher als dessen Vollendung. Aber auf alle Fälle wollen Trump und sein Think Tank um Stephen „Breitbart“ Bannon (nie war die panzerhafte Assoziation dieses Begriffes passender als hier)  das Rad der Evolution zurückdrehen.

Zurück zu alten Werten soll es gehen. Wie man so etwas flächendeckend implantieren soll, bleibt offen. Gelungen ist das bislang nur einigen ausgewählten (vorzugsweise faschistischen) Diktatoren. Stets mit dem Ergebnis, dass die Evolution am Ende einen riesigen Schritt tat – und Werte und Normen massenweise zerpulverte.

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Szene aus „Arrival“

Zurück zu altem Wohlstand soll es gehen. Mit altgewohnten Methoden. Früher hieß das „Autobahnen bauen“, heute „die Infrastruktur verbessern“, samt Autobahnen, versteht sich. Es wird aber schwierig werden, dafür geeignete und willige Bauarbeiter zu finden, vor allem, wenn man die, die willig wären, aussperrt, weil sie Mexikaner und anderes Gesocks sind.

Zynismus leicht gemacht

Es fällt leicht, zu leicht, sich über die Ideen und Ziele eines Donald Trump oder Stephen Bannon lustig zu machen. Solch Zynismus ist billig, er bietet sich einfach zu sehr an. Vor allem aber lenkt er ab von dem anderen, nicht weniger schlimmen Zynismus sozusagen der anderen Seite. Die Alternative zu Trump wäre eine Fortsetzung des neoliberalen „Weiter-so“ gewesen, samt gesamtgesellschaftlicher Verantwortung und Alimentation der Finanzsysteme.

Die Alternative wäre ein „Weiter-so“ der immer größeren Spaltung unserer Gesellschaften in „Arm“ und „Reich“, in Gier und Resignation, in Ultra-Reichtum und breites Prekariat – auf relativ hohem Niveau. Hungern muss keiner mehr, dafür sorgt irgendwann schon ein bedingungsloses Grundeinkommen, aber Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten gibt es nur für die wenigsten, nur für die Reichen, ihre Mischpoke und ihre Günstlinge – man ist ja nicht so…

Die real existierende Alternative zu einem Donald Trump ist – und es tut weh, es zu schreiben – keine echte Alternative. Sie ist ähnlich anti-evolutionär, sie gibt sich nur evolutionär mit immer neuen Erfindungen und Ideen, immer neuen Start ups und digitalen Gadgets. Aber in ihrem Denken ist sie altmodisch. Solange sie keine Ideen hat, die Schere zwischen Arm und Reich nicht nur nicht größer werden zu lassen, sondern auch wieder zuklappen zu lassen, ist sie ähnlich zynisch wie Trump & Co..

Eine Welt ist nicht genug

Wir stehen vor eklatanten Problemen in dieser Welt. Wir brauchen mehr Ressourcen als absehbar da sind. Wir werden nur im guten Fall 11 Milliarden Menschen – das ist um die Hälfte mehr als heute. Die müssen ernährt und vor allem mit sauberem Wasser und sauberer Luft versorgt werden. Und wir müssen radikal umdenken, denn wie soll das funktionieren, wenn uns schon einige Hunderttausende Migranten an den Rand der Staatskrise bringen? Uns erwarten Millionen und Milliarden…

Die Alternative ist nicht, eine Neben- oder Ersatzwelt zu schaffen, sei es der Mars oder sonst ein Exo-Planet. Das mag für eine versprengte Handvoll Menschen funktionieren, nicht für eine Weltgesellschaft. Die zieht nicht mal so schnell um. Wir müssen diese Welt lebenswert erhalten bzw. wieder lebenswert machen. Das geht nur, indem wir Schranken abbauen. Zwischen Arm und Reich; zwischen Ost und West; zwischen Nord und Süd; zwischen Schwarz und Weiß. Zwischen allen Ländern. Die Erde kennt keine Grenzen, die haben wir erfunden.

Keine Sorge um die Evolution

Auch die Evolution kennt keine Grenzen. Sie geht auf jeden Fall weiter. Ob mit uns oder ohne uns. Das entscheiden wir. Ob wir (noch) evolutionstauglich sind, oder eben nicht. Ob wir innovativ und zugleich weise genug sind, um eine Welt zu erfinden, die für alle lebenswert ist und für die es zu kämpfen lohnt. Sorge darum habe ich im Prinzip nicht. Sicher ist, eine Welt in Angst wird die Lösungen nicht finden. Angst lähmt das Denken. Das ist leider ein Erbe aus den Zeiten, als wir noch ums Überleben in freier Wildbahn kämpfen mussten. Sozusagen eine Restschlacke der Evolution. (Schöne Illustration dazu ist der Film „Arrival“ von Denis Villeneuve.)

So gesehen müssen wir heute wie einst kämpfen, dass es unsere Nachkommen besser haben als wir. Dass unsere Welt für sie ökologisch, ökonomisch – und vielleicht auch mental und sozial besser und weiser ist als jetzt. Und bei solch einer Frage sollte dann ein Donald Trump nur eine Randnotiz der Geschichte sein, so wie es auch eine Hillary Clinton (gewesen) wäre. Je kleiner wir diese halten, desto besser.

 

Prokrastination vs. Evolution


Das Ende des Produktivitätszeitalters

Will die Arbeit heute nicht recht von der Hand gehen? Zu viel Zeit bei Facebook verplempert? Waren irgendwelche Sites im weiten, weltweiten Netz wieder mal so viel interessanter als die Aufgaben direkt vor der eigenen Nase? War heute wieder mal so ein Tag, wo die Muse anderswo tätig war – und sie nicht zu Besuch in den eigenen vier Wänden gekommen ist? Kurz: Heute wieder nichts zum Bruttosozialprodukt beigetragen? – Kein Problem: Kevin Kelly, Gegenwartsanalytiker und talentierter Zukunfts-Spürhund (und Ex-Chefredakteur von „WIRED“) hat gerade  auf seiner Website „The Technium“ das Ende des Produktivitäts-Zeitalters ausgerufen.

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Alexei Gregorjewitsch Stachanow, der russische Held der Arbeitsproduktivität. Übererfüllte sein Arbeitssoll als Bergmann 1935 um 1.457 %.

Die Herleitung dieser ebenso mutigen wie inspirierenden These ist ein wenig gewagt: Warum wählen Menschen in Armutsregionen, vor die Wahl gestellt, ob sie lieber eine Toilette mit Wasserspülung oder ein Handy wollen, stets lieber das Mobil-Telefon mit seinen Möglichkeiten der Vernetzung zu seinen Nächsten und dem Internet. Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass eine Toilette ohne zugehöriger Kanalisation wenig Sinn macht. – Aber dieses Fakt mal aus einem anderen Blickwinkel betrachtet: Ein Kommunikationsnetzwerk macht erst mal sicher mehr Sinn als ein Netzwerk von Abwasserrohren. Die Nutzungsoptionen und das Momentum sind so viel größer, ebenso die Nutzungsdauer…

„Was du heute kannst besorgen – das verschiebe nicht auf morgen“

Erfrischend ist die These allemal als Gegenpol zum Sofortvollzugs-Mantra, das mir meine Mutter jedenfalls von frühesten Jahren an mit auf den Weg gab: „Was du heute kannst besorgen – das verschiebe nicht auf morgen!“ Wie wacklig dieses Arbeitsbewältigungs-Prinzip ist, erlebt jeder, wenn er erst mal längere Zeit am Stück in Urlaub gewesen ist. So viele Anfragen, Projekte und Probleme erledigen sich von selbst, geht erst ein wenig Zeit ins Land. Gerade die dringlichst formulierten Dinge scheinen die geringste Halbwertszeit zu haben. Ein „Das-kann-warten“ ist nicht die schlechteste Art, Prioritäten zu setzen.

Prokrastination nennt man heutzutage gerne das planmäßige Verschieben von Arbeit. Wie jedes chronische Leiden hat es seinen Wortursprung im Lateinischen. „Pro“ = für und „cras“ = morgen. So gesehen ist Prokrastination also eine (krankhafte?) Vermorgentlichung, auch „Verschieberitis“ genannt. Ich selbst war in meinen Studentenzeiten sehr gut darin, diese Malaise zu pflegen und zu hegen. Vor allem in der sich mit Betriebsamkeit tarnenden Variante, immer unwichtigere, angenehmere Dinge in der Prioritätenliste nach vorne zu schieben und die unangenehmeren – oder weniger lukrativeren Jobs, wenn es ums Geld verdienen ging, hintan zu stellen.

Selbstmitleid mit (Liebes-)Entzugserscheinungen

Ich habe diese Krankheit zunächst recht wirksam damit geheilt, dass ich mir derart stressige Jobs mit solch unverrückbaren Deadlines gesetzt habe, dass ich gar keine Zeit – und Gelegenheit – mehr hatte, der Prokrastination zu frönen. Aber natürlich war sie stets latent präsent, stets bereit bei geeigneter (seltener!) Gelegenheit wieder auszubrechen. Wie schlapp und mies man sich nach einem massiven Ausbruch dieser Krankheit mit den sich häufenden Unerledigungen fühlt, kennt jeder, der sich je auf der faulen Haut wund gelegen hat, um hier mal den berühmten Müßiggang-Analytiker „Dr.“ Mehmet Scholl zu zitieren.

Ich wurde von dieser seit Jahrzehnten immer weiter grassierenden Volkskrankheit recht schnell und nachhaltig geheilt, als mir klar gemacht wurde, dass die Ansteckungsherde der Prokrastination Selbstmitleid und absurde Liebessehnsucht nach dem Kuss der Muse sind. Beides kann man ganz schnell in den Griff bekommen: Bei Selbstmitleid hilft sehr gut ein Blick in den Spiegel. Selbstmitleid ist zum Kotzen – und wer will das schon im Angesicht des eigenen Angesichts. Gegen Liebessehnsucht nach Küssen der Muse helfen vor allem zwei Dinge: 1. Recherche – und 2. einfach anfangen und der Kraft und dem Überraschungseffekt des Schreibprozesses als solchem vertrauen. (Wie man auch an diesem Beispiel hier sehen kann.)

Was ist produktiv in der Netzwerkgesellschaft?

Aber zurück zu Kevin Kelly und seiner These von der Ende des Produktivitäts-Prinzips in der Wirtschaft (der Zukunft). Für ihn ist Produktivität das Elementar-Element der ersten und zweiten industriellen Revolution. (1. Revolution = Dampfkraft und Eisenbahnen; 2. Revolution = Chemie, Elektrizität & Motorkraft.) Die dritte industrielle Revolution, deren Beginn Kevin Kelly mit der Vernetzung der Computer (ca. 1990) datiert, ist dagegen der Beginn der Netzwerk-Ökonomie. In ihr spielt Produktivität nicht mehr die zentrale Rolle bei der Steigerung des Bruttosozialprodukts. Denn von nun an wird die Produktivität durch automatisierte Arbeit, durch Roboter und Bots gesteigert, nicht mehr durch uns (arbeitende) Menschen.

Wir sind, so argumentiert Kelly, in der Netzwerk-Ökonomie dafür zuständig, wieder Arbeit zu erfinden, und zwar jenseits industrieller Arbeit, in solch „unproduktivitäten“ Sphären wie Herumspielen, Kreativität und Forschung. Hier wird der Mehrwert der Zukunft geschaffen, nicht in der Optimierung vorhandener Produktionsmethoden (und Ausbeutung knapp werdender Ressourcen). Denn die wesentliche Errungenschaft der 3. Industrialisierung ist die Vernetzung von Dingen, von verschiedener Intelligenz und aller unserer Gehirne. Ihr Kerneffekt ist nicht Produktivität, sondern es sind Erfindergeist und Sinnverfeinerung (Kelly erfindet dafür die Begriffe „consumptity“ und „generativity“.)

Die Evolution der Evolution 

Ein einleuchtendes Argument, dass die Fixierung auf Produktivität in der Wirtschaftswelt der Zukunft keine vorrangige Rolle spielen wird, ist deren Linearität. Produktivität wird weiter Gültigkeit haben, sie wird wachsen, schön linear, aber das wird eben an Maschinenintelligenz delegiert. Um aber Wachstum auf Dauer zu erzeugen, reicht ein Mehr, Größer, Schneller nicht mehr aus. Damit wird man die wirtschaftlichen Herausforderungen der Zukunft nicht bewältigen können. Kelly zählt hierzu auf:

  • Immer höhere Komplexität
  • Zunehmende Interdependenzen (Globalisierung!)
  • Steigende Allgegenwart der Finanzwirtschaft und des Geldwesens
  • Die schwindende Bedeutung von Besitz (Sharing-Projekte etc.)
  • u v a.

Diesen – und all den noch (unerkannt?) ins Haus stehenden – Problemen der Zukunft, die eine Netzwerkökonomie entwickeln wird, wenn sie immer reifer wird, werden wir mit linearen Mitteln nicht Herr werden. So Kevin Kelly. Dazu müssen wir uns und unsere Wirtschaft evolutionär entwickeln. Immer weiter zunehmende Komplexität, exponentiell wachsende Interaktion aller mit allen, das Verstehen  dynamischer Netzwerkeffekte und ihre Beherrschung kann sicher nicht mit alten (linearen) Methoden funktionieren. Dafür müssen wir neue Ideen, neue Konzepte entwickeln. Es braucht Visionen – und den Mut, vielerlei auszuprobieren. Und in solchen Phasen verbietet sich (zumindest erst einmal) jede Fixierung auf Produktivität.

Die Welt nach der Produktivität

Das Ende der Produktivität ist dann eben doch keine gute Nachricht für alle Slacker und Prokrastinatoren. Wenn auch das alte Mantra manischer Effektivität kaputt geht, so braucht die Zukunft (des Business) keine Däumchendreher. Es sei denn, sie träumen beim Drehen ihrer Daumen von neuen evolutionären Ideen, sie netzwerken und interagieren dabei miteinander, um die Herausforderungen der Zukunft kreativ anzugehen. – Bis dahin werden Kinect & Co. auch drehende Daumen als Info-Input zu deuten wissen…

Die Luxuskreuzfahrt des Odysseus


Odysseus als Role Model

Eine meiner schönsten Erinnerungen an meinen Vater ist, wie er mir als kleines Kind am Bett über Wochen hinweg in Fortsetzungen die Abenteuer des Odysseus erzählt hat. Damals gab es noch keine Hörkassetten. Und nein, er hat mir die Geschichten nicht vorgelesen, er hat sie mir erzählt. Aus der Erinnerung. Die Geschichte war tief in seinem Gedächtnis eingegraben, schließlich konnte er Homers Odyssee bei Gelegenheit auch minutenlang auswendig in Altgriechisch zitieren. Etwa als er im alten Theatron in Taormina stand, mit dem schneebedeckten Ätna als dramatisches Bühnenbild im Hintergrund.

Odysseus widersteht den Lockungen der Sirenen

Die Odyssee, wie sie mein Vater erzählte, war eine kreuzspannende Geschichte: die vielen Gefahren, die Verlockungen, die Ängste, die das Schicksal für Odysseus bereit hielten und er bestand – immer mit der Aussicht auf die treue, liebende Gattin im fernen, heimischen Ithaka. Es war wohl die bildungsbürgerlich liebevolle Vorbereitung auf die Fährnisse des Lebens, die ein damals schon altersweiser Vater seinem kleinen Sohn mitgeben wollte. Denn er erzählte die Geschichte durchaus werkgetreu (soweit ich sie erinnere), aber natürlich aus seiner tolerant konservativen Sicht. Vielleicht wollte er mich so darauf vorbereiten, wo er in seinem Leben nicht wie Odysseus heldenhaft gehandelt hatte, sondern bürgerlich feig – etwa im Dritten Reich. Ich sollte es nie erfahren, er verstarb dafür viel zu früh.

Der goldene Schnitt

Aber er hat mir genug Muster für mein Leben mitgegeben. Den breiten Kanon an Werten, den die katholische Religion bereit hält. Und was die zehn Gebote und ihre Sinnhaftigkeit betrifft, war das so schlecht nicht. Der Herrgott und sein Bote Moses können ja nichts für die Interpretationen und Ausführungsbestimmungen, die das Bodenpersonal die letzten Jahrhunderte bis heute so erlassen hat. Und dann die vielen Gemeinplätze, die die bürgerliche Welt damals als richtig und hilfreich ansah: den goldenen Schnitt etwa. In den Worten meines Vaters: Immer etwas über der Mitte – und ja nicht zu nah an den Extremen.

Solche Bilder entfalten in einer Zeit, in der die bürgerliche Mitte immer weniger Chancen hat, eine besonders krasse Absurdität. Damals war das Bild eines in seiner („gehobenen“) Mittelmäßigkeit zufriedenen Menschen anscheinend attraktiv. Es suggerierte eine spezielle Art von Sicherheit. Diese bürgerliche Idylle im Reihenhaus funktionierte als eine Art Tarnkappe, die einen vor Extremen und vor allem vor zu viel Aufmerksamkeit schützte. Meine Mutter drohte meines Wissens nach meinem Vater nur einmal ernsthaft mit Trennung, als er sich anschickte, für die CSU für den Bundestag zu kandidieren. Als Zählkandidat wohlgemerkt, ganz weit unten auf der Landesliste. Sie tat das nicht weil es die CSU war (im Gegenteil), sondern weil er sich so exponiert hätte. Er wäre auf der Messlatte des Goldenen Schnitts zu weit nach oben gerutscht.

Die komplette Werte-Inversion

Solch eine Weltsicht sieht im Lichte der gesellschaftlichen Wirklichkeit knapp 50 Jahre später eher kurios aus. Die Mittelwerte sind am schlimmsten vom Werteverlust betroffen. Von wegen Werteverlust. Die Werte haben sich teilweise komplett in sich umgekehrt. Heute ist nichts langweiliger als das Mittelmaß. Mit nichts kann man jungen Menschen heute wirkungsvoller drohen, als nicht stets und in jeder Lage der, die, das Beste, Meiste, Schönste zu sein und zu wollen. Keine Firma mit Anspruch begenügt sich mit guten Mitarbeitern, es muss immer gleich ein Überperformer sein, der wirklich immer alles gibt, was er hat. Was dazu führt, dass es immer weniger gute Mitarbeiter aber immer mehr exzellente Darsteller in der Rolle von Überperformern gibt.

Mein Vater wollte mich vor so ausgefallenen Abenteuern, wie sie Odysseus erleben musste, bewahren. Heute verdienen Firmen gutes Geld, die unbescholtene Menschen viel krassere Bewährungsproben bestehen lassen, am Bungee-Seil, in Wüsten oder im Himalaja. Man muss einmal ein Expeditionsvideo vor der Synchronisierung gehört haben, in dem das fast verzweifelte Ringen der Teilnehmer um Luft in der Höhe von 4.000 und mehr Metern zu hören war, um zu verstehen, dass Odysseus dann doch wohl einst eher eine gemütliche Kreuzfahrt durchs Mittelmeer unternommen hat. (Auf dem Video waren die Bilder in der Endfassung natürlich mit sphärischer Loungemusik unterlegt.)

Mann ohne Eigenschaften

Nein, das wird kein Essay über die schlimmen Widrigkeiten des Lebens im 21. Jahrhundert. Nein, keine Abrechnung mit dem schlimmen Werteverlust und der Perversion heutiger Lebenswirklichkeit. Im Gegenteil. Ich habe die bürgerliche Selbstbeschränkung ja schon früh als spezielle Art von Feigheit vor sich selbst verstanden. Ich habe meinen Schnitt mit dem goldenen Schnitt gemacht. Und die gesellschaftliche Tarnkappe, die meine Mutter noch mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln (Trennung!) verteidigt hat, habe ich schnellstmöglich verlassen – und wurde Journalist. Und heute lebe ich genussvoll das Gegenteil –  digitale Offenheit samt Blog, Facebook- und Twitter-Account. Und ich fühle mich wohl dabei. Sehr wohl.

Aber wie kann das gehen? Wie konnte ich mich so schmerzarm von den Gesellschaftsklischees meiner Jugend verabschieden? Wie geht das, dass ich so gut wie nie unter Wertewandel und Werteverlust gelitten habe?Bezeichnenderweise war einer meiner am essentiellsten prägenden Romane einst der „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Hier ist schon in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Unmöglichkeit beschrieben, in einer modernen Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen und beschleunigenden Entwicklungen noch verbindende, sinnstiftende Ideen zu finden – oder gar zu pflegen. – Interessant, dass heute etwa Peter Sloderdijk in seinen „Sphären“ sich auch wieder auf Musil und den „Mann ohne Eigenschaften“ bezieht.

Das Mosaik des Lebens

Aber anders als Ulrich im Roman vermisse ich in meinem privat wie beruflich sehr abwechslungsreichen Leben kein sinnstiftendes Ganzes. Ganz einfach, weil ich es nie gesucht habe. Für mich waren – zunächst völlig unbewusst, später immer klarer – gerade die stete Veränderung, das Mäandern, die spontanen Entwicklungen, die überraschenden Brüche, das Scheitern hier und die Erfolge da kein Fiasko, sondern eher gestaltender Teil eines Mosaiks, das mit jeder neuen Ergänzung, immer schöner wurde, immer neue Aspekte zeigte – und in seiner Collagenhaftigkeit doch immer klarer und aussagekräftiger wurde.

Gerade die Veränderung, die kontinuierliche Entwicklung ist daher für mich positiv besetzt, weil sie das Bild immer weiter bereichert. Und das gelingt nicht mit intensiver Nabelschau. Dafür sind ein ähnlich entwicklungstalentierter Partner und die stete Entwicklung der Beziehung zueinander die vielleicht wichtigsten Ingredienzien. Ebenso wichtig ist ein festes Netz aus Freunden und Seelenverwandten, die auch mal Widerworte wagen. (Das musste ich am dringendsten lernen.) Und essentiell ist dafür heute natürlich auch das digitale Netzwerk in all seinen Ausprägungen. – Ich kann mich irren, aber mir scheint, in diesem Mix aus zwischenmenschlichen Einflüssen kann ich relativ gelassen den kommenden, sicher immer krasser und schneller werdenden Veränderungen unserer Welt in all seinen Facetten – wenn auch nicht immer gelassen – erwartungsfreudig entgegensehen. Vor allem ohne Angst, eher mit Vorfreude. Odysseus sei Dank!

Schluss mit Evolution


Die Plattform des Neuen

David Weinberger, Internetanalyst und Harvard-Professor („Everything is Miscellaneous“), behauptet bei der Promotion seines neuen Buches „Too Big To Know“, wir hätten heute mit dem Internet ein Medium, das so umfassend wie unsere Neugier ist. Korrigiert um den Irrtum, dass das Internet kein Medium ist, stimmt der Satz so: „Wir haben endlich eine Plattform, die so unendlich ist wie unser Bedürfnis nach Neuem.“ Und Weinberger weiter: „Wir brauchen die Neugier mehr als alles andere, wenn wir unsere Welt verstehen wollen.“ Genauer gesagt: Wir brauchen sie, um uns weiter entwickeln zu können, um weiter zu kommen, wenn wir die Welt dabei auch besser zu verstehen lernen, dann ist das ein willkommener Kollateraleffekt. Denn das Olli Kahn-Paradigma ist tatsächlich unsere Bestimmung: Immer weiter – immer weiter!

Wir sind eine von der Evolution erzeugte und geprägte Spezies, die auf dieser Welt als Erste Sprache, Reflexion und Schrift entwickelt hat und schließlich sogar verstanden zu haben glaubt, dass es so etwas wie eine Evolution gibt. Wir sind eine Spezies, die sogar locker das Paradox aushält, Wesen wie die Kreationisten zu entwickeln, die die Evolution leugnen. Und sogar diese treiben damit die Evolution weiter voran.

Die Evolution ist blind

Denn die Evolution, zumindest soweit wir sie als Menschen verstehen, wird durch jeden Prozess, in dem nach Neuem gesucht wird, nach Erkenntnis, nach Wissen, weitergebracht. Egal ob dadurch etwas Neues entdeckt wird, ob dadurch nur neue Fragen entstehen oder zumindest ein Denkansatz wirderlegt wird, alles zahlt auf die Evolution ein. Unweigerlich.

Brian Cox, der junge und charismatische Astrophysiker, stellt diesen Effekt in seinem Vortrag 2010 auf der TED-Konferenz in London „Why we need the explorers“ exemplarisch dar. Selbst die abgefahrenste Grundlagenforschung kann letztendlich einen großen Erkenntnisgewinn bringen. Oft nicht direkt, oft nicht gleich, aber vielleicht in der Vernetzung mit anderen – möglicherweise später gewonnenen Erkenntnissen anderer. Die Apollo-Mission der USA etwa, so Cox, hat im Nachhinein etwa das Vierfache an Ertrag gebracht, was an Investment hineingesteckt worden war.

Die Evolution und das Internet

Aber der Wille nach neuen Erkenntnissen, der Drang nach Wissen, darf nicht nur nach monetären Gesichtspunkten bewertet werden. Jeder Versuch zu verstehen, wer wir sind, was wir sind – und was noch alles aus uns werden kann, ist essentiell. Und um so besser, wenn unsere Neugier heute verstanden hat, dass sie sich auch dringend darum kümmern muss, dass die Lebenssituation von uns Menschen bewahrt bleibt. Das muss nun gar nicht durch eine Verzichtshaltung passieren, viele pessimistische ökologische Prognosen sind längst durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse, neue Erfindungen und eine radikal technologisch optimierte Nutzung von Ressourcen obsolet geworden. Die Neugier ist eben zum einen das Problem – und zugleich auch die Lösung. Sie generiert Probleme – aber auch mögliche Lösungen – aber das in einem ewigen, endlosen Prozess: Immer weiter, immer weiter!

Das deutsche Missverständnis

Nun leben wir aber in einem Land, einer Sprachregion, in der die Fähigkeit, Interesse an Unbekanntem zu entwickeln und Neues wissen zu wollen, als „Neugier“ verunglimpft wird. Als Gier! Das gilt – im katholischen Kontext zumindest – immerhin als Todsünde. – In den anderen westlichen Weltsprachen beruft man sich in diesem Zusammenhang lieber auf den lateinischen Ursprung „curiositas“ des Begriffs: „curiosity/curiousness“ (engl.) – „curiosité“ (franz.) – „curiosità“ (ital.) – „curiosidad“ (span.). Das lateinische „curiosus“ – von „cura“ Sorge, Sorgfalt, umfasst eine Menge positiver Bedeutungen bis hin zum Wissensdrang: „voll Sorge, voll Interesse, mit großer Teilnahme, mit großer Aufmerksamkeit, sorgfältig, aufmerksam, sich interessieren für, wissbegierig, vorwitzig“ – und dann erst auch „neugierig“. Bei uns ist das Wort „kurios“ in die Nähe der Freak Show gedrängt. Es sagt einiges über ein Land aus, dass es die Lust auf Neues so sprachlich diffamiert.

Die eingangs ausführlich formulierte Prämisse ernst nehmend, ist nichts schlimmer, als sich dem „Immer weiter, immer weiter!“ verweigern zu wollen und ein erbittertes: „Es bleibt so, wie es ist!“ entgegen zu setzen. Abgesehen davon, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist, uns von der Evolution abzukoppeln, der Versuch dazu ist besonders töricht. Der Versuch, sich von der Evolution abzukoppeln, ist immer eine Bankrotterklärung der eigenen Verantwortung gegenüber der Welt. Es ist die völlige unnötige Kapitulation davor, die Welt mitgestalten zu wollen. Es ist die Verweigerung, die Welt wenigstens ein bisschen nach den eigenen Vorstellungen und Wünschen gestalten zu wollen. Vielleicht ja schlicht, weil man nicht weiß, wie man es denn gerne hätte – oder nicht einmal darüber nachdenken will.

Zu dröge zum Wünschen

Neugier meint nun wirklich nicht nur die Sucht nach neuen Konsumgütern, nach neuen Moden, neuen Gadgets oder Apps. Sie beschreibt vor allem auch die Bereitschaft darüber nachzudenken, wie denn eine bessere Welt aussehen könnte, was denn am Bestehenden dringend verändert gehört. Dazu muss man jenseits aller Stammtischparolen mal ins Innere horchen, dem kleinen Unbehagen nachzuforschen – und über die Ursachen dazu nachdenken. Das sind alles Dinge, für die man natürlich im Alltags-Stress keine Zeit hat, wozu der geschäftige Alltag keine Muße lässt. Aber vielleicht ist der Stress, sind die vielen Themen-Hysterien und das allgegenwärtige Lamento darüber auch eine hoch willkommene Ablenkung, nicht über die wirklich ernsten Dinge nachzudenken.

Die ganz hohe Schule der Neugier ist es, kreativ in sich hineinzuhorchen und „Träume“ zu entwickeln, was man denn wirklich wünschen würde, was das Leben wirklich besser machen könnte und vor allen Dingen, welche gesellschaftsverträglichen Freiheiten uns die neuen technischen Möglichkeiten unserer Zeit geben könnten. Es tut immer wieder weh, hirnrissige Szenarien von denkenden Kühlschränken, die unsere Einkäufe autonom organisieren, aushalten zu müssen. So etwas will kein Mensch, das will bestenfalls eine abverkaufsüchtige Industrie. Es sind aber so viele andere, sinnvolle, bisher nicht erdachte, bisher nicht erträumte Dinge möglich. Denen hinterher zu spüren, das ist die vornehmste Aufgabe der Neugier. Oder besser, der „curiositas“, die eben die positive Seite des Neuerungs- und Wissensdrangs beschreibt: „voll Interesse, mit großer Teilnahme, mit großer Aufmerksamkeit, sorgfältig, aufmerksam, sich interessieren …“

Willkommen Krise – wenn es denn sein muss


Änderungsprozesse sind nie gemütlich

Wenn man einmal in einer wissenschaftlichen Animation gesehen hat, wie sich ein System in ein anderes transformiert, sei es ein Bakterienstamm oder ein soziales System, dann ist das eindrucksvoll: Ein stabiles System arbeitet zunächst brav in einem funktionierenden Schema. Alles ist ruhig und „normal“. Dann erscheint irgendwo ein kleiner Störfaktor. Normalerweise wird er von dem System absorbiert. Ist aber das System dazu nicht mehr in der Lage, vielleicht weil es in Teilen heimlich schon dysfunktional ist, dann verbreitet sich dieser kleine Störfaktor immer mehr. Zunächst minimal und fast unscheinbar, dann aber immer mehr und mit wachsender Dynamik.

Rosette Nebula - Galaktische Evolution

Ab einem kritischen Punkt wird nun das System immer unruhiger, es gerät immer mehr in Unordnung, wird immer hektischer und chaotischer. Man nennt diesen Vorgang dann nicht zu unrecht Krise. κρίσις (krísis) stammt aus dem Griechischen (!) und bedeutet in etwa „Zuspitzung“ oder auch Wendepunkt. Er beschreibt den Zustand des Wechsels von einem stabilen Zustand in einen anderen. Und solch ein Wechsel ist unweigerlich mit einem sehr unruhigen, turbulenten, chaotischen Moment verbunden bis sich das neue System, das einmal als kleiner Störfaktor begonnen hat, durchgesetzt hat. Nun erst beruhigt sich das System in der dann neuen Funktionsweise. So funktioniert  Evolution.

Schaut man sich um, liest und sieht die Nachrichten, dann liegt der Verdacht nahe, dass wir uns gerade in solch einer turbulenten, hitzigen Wechselphase befinden. Und das Wort „Krise“ liest und hört man sowieso allenthalben. Fragt sich nur, wohin der Wechsel gehen soll. Welche unserer gewohnten, aber vielleicht doch etwas überholten Systeme stehen denn zur Abwahl an? Da fällt uns recht viel ein, ohne auch nur ansatzweise in die Esoterik abgleiten zu müssen:

1. Das Banken- & Glückspielsystem

Da ist als erstes sicher das Bankensystem, das nach seiner Liberalisierung zu großen Teilen – vor allem denen, wo am meisten Umsatz und Profit gemacht wird – zu einem Wettbüro degeneriert ist. Heute muss schon jeder Lottobetreiber darauf aufmerksam machen, dass Glücksspiel süchtig macht. Warum müssen das die Investmentbanker, Derivate-Händler & Konsorten nicht? Und wäre es nicht ein willkommener Effekt der Krise, wenn damit in Zukunft erst einmal Schluss wäre?

2. Das kapitalistische System

Nur einen kleinen Gedanken-Fußbreit weiter gedacht: Vielleicht hat nach dem sozialistischen System auch der Kapitalismus in seiner Reinkultur ausgedient. Sein naiver Glauben an unaufhörliches Wachstum als Heilmittel hat sich überholt. Und wie sich der Sozialismus heute in sonderbare kapitalisteske Mutationen manifestiert, beispielsweise in China, und damit wirtschaftlich nicht schlecht fährt, so muss sich vielleicht der Kapitalismus neu erfinden, um noch im 21. Jahrhundert lebensfähig zu bleiben. Er muss möglicherweise sozialer werden – ohne seine Grundidee des Wettbewerbs aufgeben zu müssen.

3. Das Sozialsystem

Apropos sozial. Unser viel gelobtes Sozialsystem, das so viel auf sich hält, muss schätzungsweise auch möglichst bald von seinen Lebenslügen geheilt werden. Es braucht wahrscheinlich eine grundlegende Runderneuerung, um den vorhersehbaren Katastrophen wie Rentenpleite, marodem Gesundheitssystem und System-Arbeitslosigkeit irgendwie noch zu entgehen.

Braucht es erst eine Verelendung auf breiter Front mit begleitenden Unruhen und Aufständen, bis sich vernünftige Ideen wie eine Grundrente – oder positiver formuliert: Bürgereinkommen – durchsetzen können? So etwas wäre ein dermaßen grundlegender gesellschaftlicher Paradigmenwechsel, der viele andere anstehende Probleme leichter lösbar machen würde: Leistungsschutz, Nutzungsrechte, Versorgungsbürokratie etc. Wie anders als durch eine Krisensituation soll sich solch eine Idee, die grundlegende Paradigmen berührt, durchsetzen?

4. Konsum-System

Es fällt auf, wo in dieser Welt welcher Luxus gelebt wird. Einerseits der laute, protzige Glam-Luxus als Reichtums-Peep Show. Das findet vorzugsweise dort statt, wo es besonders viel Wohlstands-Nachholbedarf gibt und zugleich noch sehr feudale Strukturen überlebt haben, etwa in Russland oder auf der arabischen Halbinsel. Anders in Indien oder China. Auch hier gibt es reichlich Nachholbedarf und genug feudalistische Reste, und Reichtum wird stolz gezeigt, aber es gibt längst nicht solch prosperitäts-exhibitionistische Exzesse. Es fällt auf, dass ausgerechnet dort Luxus am dekadentesten gelebt wird, wo am wenigsten produktiver Reichtum aus neuen Ideen und innovativer Produktion entsteht, sondern Geldüberflüsse nur durch Förderung von Rohstoffen erzielt werden.

Bei uns im Westen, wo wir seit langem Reichtum und Prosperität gelernt haben, wird offensive Zurschaustellung von Luxus längst als peinlich empfunden. Vielleicht sind wir jetzt so weit, neue Wertesysteme des Luxus zu entwickeln . Die haben weniger mit Insignien des Reichtums zu tun, als vielmehr mit Lifestyle, neuen Optionen und gelebter Erfahrung und gelebtem Wissen. Genuss wird hier anders zelebriert. Durch neue Geschmackserlebnisse, durch neue Freiheits-Optionen, durch neue Perspektiven.

5. Die Welt der Arbeit

Es ist heute sehr gut absehbar, dass die Arbeitswelt schon mitten dabei ist, sich massiv zu verändern. Das kann man ganz brav und uninspiriert darstellen wie etwa aktuell in der Süddeutschen Zeitung, oder aber man bezieht den Paradigmenwechsel in eine digitale Netzgesellschaft mit ein, wie es Jeanne C. Meister und Karie Willyerd in ihrem Buch „The 2020 Workplace“ entwerfen. Dankenswerterweise hat Karen Heidl die Grundthesen des Buchs in ihrem Blog kurz zusammengefasst. Es wird in Zukunft darauf ankommen, Talente und Könner damit zu ködern, dass sie ihre Marke (Employee Brand) weiter entwickeln können und dass sie sich kontinuierlich weiterentwickeln können. Beruflich, fachlich, menschlich, sozial etc.

6. Steuersystem

Wie will man übrigens bei einem Arbeitssystem, das auf neue Freiheit, Flexibilität und gleichzeitig auf extreme Effektivität ausgerichtet ist, noch darauf hoffen, darauf sein Steuersystem aufbauen zu können. Es braucht deutlich andere Bewertungsgrundlagen: etwa Effektivität, Wertschöpfung, Maschinenleistung etc. Genug intelligente Ideen dazu gibt es längst. Den Mut, hier einen Schnitt zu machen, können Politiker, die immer die nächste Wahl vor Augen haben, nicht aufbringen. Das ist nur aus einer massiven Krisensituation heraus durchzusetzen.

7. Digitales Denken und Leben

Realistisch gesehen wird die Ablösung unseres Denkens aus den Limitationen des analogen Systems auf breiter Basis noch Zeit brauchen. Aber analoges Denken wird sich, gerade weil es bei uns in Deutschland (Dichter & Denker?) so tief verankert und mit seltsamer Nostalgie und Wehleidigkeit aufgeladen ist, nur in krisenhaften Situationen durchsetzen können. Nur wenn es gar nicht mehr weitergehen mag, ist man wohl bereit, sich an eine Digitale Intelligenz samt Netzwerk-Denken mit ihren ganz anderen Gesetzmäßigkeiten zu gewöhnen. Und sie dann ganz schnell genießen zu lernen. Nur so lässt sich die weitere unausweichliche Beschleunigung unserer Welt, unseres Wissens und unseres neuen, fluiden Wertesystems überhaupt aushalten.

Oder kurz zusammengefasst: Es wird höchste Zeit, dass wir endlich im 21. Jahrhundert, im 3. Jahrtausend ankommen. Kann sein, dass wir dafür ein weiteres Mal, wie schon bei so vielen Fin de siècles, eine Krisensituation brauchen. Schade! … Aber wenn es denn sein muss…

Homo post-sapiens


Angst vor der geistigen Entgrenzung

Es gibt seltsame Wochen, da scheint eine (eher unerhebliche) Meldung auf wundervolle Weise mit anderen ein unerwartetes Sinngeflecht zu spinnen. Das ist ähnlich, wie wenn man des Nachts wild durch die Vielfalt digitaler TV-Kanäle zappt und auf kuriose Weise ein Film in einem anderen, einem (oder mehreren) Videos oder sogar Talkrunden eine Spiegelung, Ergänzung oder Kommentierung erfährt. Eine liebenswerte Selbsttäuschung unseres Bewusstseins, wenn es sich auf ein bestimmtes Thema kapriziert, möglichst viel darunter subsummieren zu wollen.

Hans-Joachim Kulenkampff - "Einer wird gewinnen"

Manchmal entsteht aber solch eine thematische Assoziationskette auch in den Medien und den sie kommentierenden Sozialen Netzwerken. Am Anfang stand die Meldung, dass uns Google vergesslicher, wenn nicht dümmer macht, weil sich Studenten, die wussten, dass Fakten in Google gespeichert waren, weniger Informationen merkten als eine Kontrollgruppe, die das nicht wusste, so eine Harvard-Studie. Kein neues Thema, da gibt es schon Bücher zu, aber jetzt war die These endlich wissenschaftlich belegt, so hieß es. Der erste Medienreflex ist dann das übliche Google-Bashing: Spiegel Online titelt: „Internet macht vergesslich“. Zitat: „Unser Gehirn lernt immer mehr, nicht zu lernen.“ Und Google, Bing und Wikipedia sind schuld.

Hätten Sie’s gewusst?

Solch eine Lernste-was-biste-was-Logik erinnert mich an meine Eltern, die mich immer mit dem Argument ermuntert haben, Quiz-Sendungen wie „Hätten Sie’s gewusst“ (Heinz Maegerlein), „Einer wird gewinnen -EWG“ (Hans-Joachim Kulenkampff) oder „Der große Preis“ (Wim Thoelke) anzusehen, man würde dadurch klüger. Wahrscheinlich muss solch Argumentation noch heute herhalten, wenn unbedingt  „Wer wird Millionär“ (Günther Jauch) angesehen wird oder suchtartig Sudoku-Rätsel gelöst werden. Die Wahrheit ist brutal: Auf diese Weise wird man nicht klüger, man belastet sein Hirn nur mit unnützem Spezialwissen. (Und dass durch den Konsum von TV-Sendungen die Hirntätigkeit wirksam gegen Null gefahren wird, das ist auch etliche Male wissenschaftlich nachgewiesen worden.)

Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Google macht uns nicht dümmer, sondern macht unser Hirn frei für Wichtigeres und Effektiveres als das Speichern (heute immer schneller vergänglicher) Fakten. Diese Tatsache hat dann doch auch tatsächlich die taz erkannt und sogar Frank Schirrmacher in FAZ.net hat sie erahnt. Auf den Punkt aber brachte die Diskussion Douglas Coupland (Generation X, Generation A) im Guardian: „Let’s face it, Google isn’t making us stupider, it’s simply making us realise that omniscience is actually slightly boring.“ Google macht nicht dümmer, es hilft uns nur zu kapieren, dass Allwissenheit ein bisschen langweilig ist.

Allwissen tut weh

Wie sehr Allwissen nerven kann, dazu wird in der Augustausgabe des Wired (US) der Technologie-Kritiker Erik Davis zitiert, den es stört, wie im Internet alles bewertet, kommentiert, mit Sternchen zu belohnt wird oder mit Daumen nach oben ge-liket wird : „Our culture is afflicted with knowingness. We exalt in being able to know as much as possible. (…) But we’re forgetting the pleasures of not knowing. (…) We have started replacing actual experience with someone else’s already digested knowledge.“ Unsere Kultur leidet unter notorischer Wisserei. Wir gefallen uns allzu sehr darin so viel wie möglich zu wissen. Aber wir vergessen dabei, wie angenehm es sein kann, etwas nicht zu wissen. – Wir tendieren dazu, echtes Erleben durch das erlebte Wissen anderer zu ersetzen.

Der Autor des Artikels, Chris Colin, beschreibt die Schönheit neuer Entdeckung von Altbekanntem: „It’s a fundamental bit of humaness to discover, say, the Velvet Underground for the first time – to reach at 13 an unbiaased and wholly personal verdict on those strange sounds.“ Es ist fundamental für ein Menschsein, etwa Velvet Underground heute neu zu entdecken, und etwa als 13-jähriger ein völlig neues, unbefangenes Urteil über diese schrägen Sounds zu fällen. –

Erfahrungen ohne Meinungsvorgaben

Genau darum geht es doch, dass immer neue Erfahrungen gemacht werden. Gerade die Generation der Jungen muss ihre eigene Sicht auf Dinge entwickeln, auch auf historische Klänge wie Velvet Underground oder Jimi Hendrix – genauso wie die älteren Generationen Lady Gaga oder Usher zu genießen lernen müssen. Das ist das Wesen der Evolution, dass immer neue Variationen entwickelt werden. Nur so kann Innovation entstehen und nur so kann für die je aktuelle Zeit die richtige Einstellung gefunden werden, können neue, passendere Lösungen gefunden werden – oder wirklich provokante Innovationen. Je kritischer, instabiler und unübersichtlicher die Zeiten werden, desto notwendiger wird eine riesige Bandbreite an möglichen Ideen. Und die entwickelt sich nicht aus Bewertungssystemen und Empfehlungsalgorithmen eines breiten Massengeschmacks.

Einer der größten – und erfolgreichsten Querdenker und kulturellen Innovatoren ist Brian Eno. Er hat nicht nur erfolgreich Musik produziert (Roxy Music, Talking Heads, U2, Coldplay u.v.a.), sondern hat mit seinen Musikexperimenten  immer wieder Neuland betreten, dem dann viele andere folgten. Sein neuestes Album heißt  “Drums Between the Bells” und ist Klang gewordene Poesie und Sprache.

Selbstveränderung und Selbstmodifikation

In einem Interview zum Album formuliert Brian Eno in der New York Times auf wunderschöne Weise eine fundierte, evolutionäre Vision einer positiven Zukunft:  “Something I’ve realized lately, to my shock, is that I am an optimist, in that I think humans are almost infinitely capable of self-change and self-modification, and that we really can build the future that we want if we’re smart about it.” Ich habe für mich entdeckt, und das war ein Schock, dass ich ein Optimist bin. Ich glaube daran, dass Menschen unendlich talentiert sind zur Selbstveränderung und Selbstmodifikation. So können wir wirklich die Zukunft schaffen, die wir uns wünschen, wenn wir es nur schlau anstellen.

Und die Plattform für diese Entwicklung  ist das Internet samt Google, Facebook, Wikipedia – und was noch alles kommen wird. Das Internet macht nicht dumm, nicht vergesslich. Es schafft nur den Platz, indem es Faktengerümpel aus unseren Gehirnen entfernt, für unsere Selbstmodifikationen, unsere Selbstveränderung – als Individuen, als Gesellschaft, als Menschheit. Und am Schluss kommt es auch gar nicht so sehr an, was das Internet mit unserem Gehirn tut. „Look at what these media are doing to our souls.“, zitiert Douglas Coupland Marshall McLuhan: Passt auf, was diese Medien mit euren Seelen machen! Mit den Seelen des Homo post-sapiens.