Viren, Gram & Tränen

Die ungewohnten Gefühle der Pandemie

Woche Zwei in der Corona-Quarantäne. Und gleich mal vorweg ein bisschen Wissenshuberei für alle, die jetzt schon ungeduldig das Ende ihres Hausarrestes fordern. „Quarantäne“ kommt aus dem Französischen (danke Heidi für den Tipp) und hat ihren Namen vom Begriff „quarant“, was schlicht die Zahl 40 bedeutet. 40 Tage – manchmal auch 80 Tage – dauerten Quarantänen zu Pest-Zeiten. Also wer nach nicht mal 14 Tagen schon Ungeduld zeigt, weiß weder etwas über Epidemiologie noch etwas über Historie. Also: Nach 40 Tagen mal checken, ob noch mal weitere 40 Tage nötig sind.

Blumen Wüste

In der Zwischenzeit sind wir weiter auf uns selbst (Singles) plus unsere Nächsten gestellt. Das kann interessant, das kann „einleuchtend“ oder ziemlich schlimm sein. Jetzt kommt raus, wie man sich in den fetten Jahren zuvor mit sich selbst beschäftigt hat. Ob man sein eigener bester Freund (geworden) ist, ob man sich liebt, oder eben nicht. Sartres „Die Hölle sind die anderen“ mutiert dann zu „Die Hölle, die ist man sich selbst.“ In letzterem Fall wäre man schon froh, wenn der Kauf von Unmengen an Klopapier etwas sedative Wirkung entfalten möge.

Denn die Verbannung in das eigene Heim und das höchsteigene Seelenkostüm bringt unweigerlich völlig neue Erfahrungen. Irgendwas ist, man fühlt sich so komisch. Und man kann es kaum benennen. Man entdeckt ganz neue, unbekannte Seiten des eigenen Gemüts. Gefühle, die wir durch Konsum, Themenhysterien, manische Mobilität und dem vielgeliebten „Stress“ perfekt ins Abseits geschoben haben.

Ich meine an dieser Stelle nicht die Angst. An die sind wir gewöhnt. Damit können wir halbwegs umgehen. Vor allem, seit Angst zum Treibstoff der click-hungrigen Medien und populistischer Politiker geworden ist. Nein, ich meine hier seltene Gefühls-Exoten, die einem heutzutage bestenfalls nur noch in religiösen Texten oder Erzählungen (weltkriegserprobter) älterer Menschen bisweilen unterkommen. Gefühle, die aber derzeit zurecht existieren und in uns – meist unausgesprochen – wabern.

Gram

„Gram“ ist so ein seltsames Gefühl. Da weiß nicht mal Google so recht weiter. Meist wird es als „tiefer Kummer“ umschrieben. (Zu Kummer aber später.) Gram ist etwas anderes als Kummer. Wir kennen das Wort ja nur noch vom Taubenvergrämen. Das meint, die Lebensbedingen so zu verschlechtern oder zu verunmöglichen, dass Tauben sich nicht häuslich niederlassen, dass sie sich nicht wohlfühlen. Wir fühlen uns auch nicht mehr wohl. Zudem sind wir seuchenpolitisch aus unseren Städten und unserem sozialen Alltagsleben ganz offiziell vergrämt worden.

Gram ist für mich aber mehr als nur ein altes Wort für mangelnde Lebensqualität. Es ist ein nagendes, nicht festzumachendes Gefühl von Verlust, Ungewissheit, Trauer und einer spürbaren Unterversorgung an Hoffnung und Zuversicht. Gram macht die Türen auf für schlimme Zukunftsängste und ist zugleich ein so stilles Gefühl, dass es nicht gezielt zu bekämpfen ist, sondern still vor sich hinwabert. Einziges Gegenmittel: viel frische Luft, Kontakt zu anderen Menschen und eine vernünftige Dosis Hoffnung.

Kummer

Auch bei Kummer helfen Google und Wikipedia nicht weiter. Kummer ist in solch Niedlichkeiten wie „Kummerkasten“ profanisiert worden. Kummer kennt der Mensch von Heute eher als „Liebes-Kummer“. Das kann auch sehr schmerzhaft sein. Kummer aber an sich, schließlich steckt das Wort „kümmern“ hier drin, in einer fast dauerhaften Denkschleife von schlechtem Gewissen und berufenem Pessimismus, dass Dinge einen schlimmen Ausgang nehmen. Ein gutes Gegenmittel gegen Kummer ist sich zu „kümmern“. Oder zweite Möglichkeit: nicht von allen Verhältnissen und allen Menschen das Schlimmste anzunehmen, sondern auch mal was Positives.

Ohnmacht

Ein Auslöser von Gram und Kummer ist die Ohnmacht. Das ist gerade ein besonders ekliges kollektives Gefühl. Man spürt die Bedrohung durch Viren nicht, und das Einzige, was man dagegen tun kann ist: nichts tun. Der Großteil von uns Menschen ist darauf gepolt, wenn Gefahr droht, zu kämpfen – oder sich schleunigst aus dem Staub zu machen. Wir aber müssen sozusagen stillstehen. Kein Wunder, dass da so mancher Aggressionen entwickelt. Dann kann man wenigstens vermeintlich etwas tun. Aber sich auf das Verkaufsband am Supermarkt zu setzen, weil man nicht fünf Großpackungen Klopapier mitnehmen darf und dann gegen die eintreffenden Polizisten loszugehen, ist nicht nur keine Lösung, sondern ein seelisches Armutszeugnis der 54-Jährigen, die sich so aufführt. Aus Ohnmacht.

Sorge

Sorge, das Wort kennt man noch am ehesten. Sorgen um Arbeit, Geld, Besitz, um Gesundheit und Wohlergehen. Aber jetzt lernen wir eine viel tiefere, existentiellere Sorge. Wir ahnen, wir wissen, dass unser Leben nach der Pandemie nicht mehr so weitergehen kann wie vorher. Das muss nicht schlechter sein als heute. Die Hoffnung, dass wir nach der Pandemie vielleicht, weil viel gelernt, ein vernünftigeres Leben, gesünderes, klimafreundlicheres, solidarischeres Leben führen könnten, hat Matthias Horx sehr schön in seiner Re-Gnose „Die Welt nach Corona“ skizziert.

Auch hier ist das beste Gegenmittel gegen das stumme, passive Sorgen, dass aktive Sorgen für etwas. Etwa dafür zu sorgen, dass die positiven Perspektiven, die Matthias Horx skizziert, nicht nur als angenehmes Sedativum wirken, dass alles schon nicht so schlimm kommen wird, sondern zu einer realen Option. Da kann man schon heute damit anfangen, in seinem Umfeld möglichst viel zu ändern. Sorgen heißt nicht (nur), Zweifeln und Negativem Futter zu geben, sondern aktiv Positives vorzuleben, andere Menschen zu ermuntern und Vorbild zu sein. (So ganz ohne Gram und Kummer.) Schöne Nebenwirkung dieser Therapie: So fühlt man sich nicht mehr so ohnmächtig.

Verlassenheit

Deutschland im März, Deutschland im April. Die Straßen verlassen und leer. (Zumindest wenn nicht die Sonne scheint.) Viele Menschen, ebenso verlassen. Die Alten bekommen keinen Besuch mehr. Die Fitten erleben Familie noch per WhatsApp oder Skype. Aber das Gros ist noch mehr auf sich selbst gestellt als sonst schon.

Die Singles, jetzt wirklich alleine, können die Ungebundenheit und „Freiheit“ nicht mehr genießen. Glücklich der, der wenigstens noch über Zoom oder GoToMeeting im Homeoffice digitalen Sozialkontakt hat. Aber spätestens spätnachts, wenn Netflix-Binge-Watching endgültig schal geworden ist, ist man auf sich selbst geworfen. Und man fühlt sich verlassen. Und das passiert auch Paaren, die in der Enge feststellen müssen, dass die Beziehung nicht für Krisenzeiten taugt.

Es stellt sich nicht unbedingt Einsamkeit ein. Dazu gibt es zu viel digitale Ablenkung, dafür ist die Hoffnung auf ein neues Leben nach der Pandemie zu groß. Aber Verlassenheit ist fast schlimmer. Verlassen von allen Illusionen, verlassen von allen Tröstungen, verlassen von allen Sedativen unserer Wohlstandsgesellschaft. Verlassen auch oft von Job und Berufs-Sozialisation. Diese innere Leere schmerzt. Und es ist keine Abhilfe in Sicht. Und die Erinnerung an diese Zeit wird in besseren Zeiten nach der Epidemie nicht so schnell in Vergessenheit geraten.

Verzweiflung

Vernunftpanik nennt Sascha Lobo das Verhalten vieler isolierten Wohlstandsbürger. Sie rufen die Polizei auf den Plan, wenn sie vom Fensterbrett aus Menschen zu sehen bekommen, die sich ihrer Meinung zu nahe kommen. Hauswart-Syndrom nannte man das in anderen dunklen Zeiten hierzulande.

Vernunftpanik, Klopapier-Hamstern, Corona-Partys. Das kann man Unvernunft nennen. Es sind aber wohl oft nur Übersprungshandlungen aus purer Verzweiflung. Der Hamster im Hamsterrad wird sich auf einmal seiner unschönen Situation bewusst und möchte so schnell wie möglich da raus. Und kann nicht. Das kann hässliche Panik erzeugen. Und je länger die quarantäne Lage bleibt, wie sie ist, desto mehr Verzweiflung wird entstehen. Nicht schön, aber verständlich, vor allem wenn Verlassenheit zu schmerzhaft spürbar ist.

Das Gefühlsleben nach Corona

Die grauen und schwarzen Gefühle, die wir jetzt kennen lernen müssen, werden uns eine ganze Zeit lang im Gedächtnis bleiben. Wir werden sie durch Euphorie und (Konsum-)Rausch, wenn die Krise Vergangenheit ist, zu vertreiben versuchen. So einfach wird das nicht gehen. Und das ist gut so. Denn sie erweitern unser Gefühlsarsenal.

Es ist gut zu wissen und zu spüren, dass all das auch in einem steckt. Und je mehr man sich dessen bewusst ist, desto eher und besser kann man diese Gefühle wieder bewältigen. Am besten in ganz gezielten Ritualen, in denen man sich der Gefühle nicht nur erinnert, sondern sie noch einmal nachfühlt, ja fast „auskostet“ und dann in einem mentalen Ritus vertreibt und in den tiefen Keller der (bewussten) Bewältigung verbannt.

Das Leben wird nach der Pandemie, ein neues sein. Nutzen wir die Chance und kümmern uns darum, dass es erfreulich wird. Und lasst uns ambitioniert sein: Kümmern wir uns jetzt schon darum, dass es ein Stück besser wird als vor der Krise.

 

 

 

 

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