Digitalität & Eleganz


Lineare, euklidische Bilder

Meine Eltern stammen noch aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg. War es die Kriegszeit oder das Erbe der Vorgängergeneration, sie schleppten ein Leben lang eigenartige Bilder und Vorstellungen mit sich herum, die ihr Denken bestimmten – und damit auch die in späteren Jahren unausweichlichen Sorgen und Ratschläge: „Übernimm dich nicht!“ Das bekam ich immer wieder zu hören.

Dahinter steckte die unausrottbare Vorstellung, wir Menschen hätten nur eine ganz bestimmte Menge an Kraft, an Nerven und/oder Gehirnzellen. Und damit hatte man sorgsam umzugehen, um sie ja nicht zu schnell aufzubrauchen. Also immer ganz langsam und vorsichtig, damit man im Alter noch übrig hat: Kraft, Gesundheit, Nerven, Gehirnzellen.

Ein anderes unausrottbares Gedanken-Bild waren Pyramiden bzw. Dreiecke. Alles hatte wie einst das klassische Drama einen kontinuierlichen Aufstieg bis zu einem Kulminationspunkt – und von da an ging es unweigerlich abwärts. Das war so. Nur der höchste Punkt und die Steilheit des Auf- bzw. Abstiegs waren der persönlichen Gestaltung überlassen. Das war das Bild für das persönliche Leben – und ganz brav nahm man dann auch irgendwann das Abwärts als gegeben hin.

Hierarchisches Denken

Das Dreieck bestimmte Karrieren, Familienschicksale (Buddenbrooks!), ja die komplette Historie. Und auch die Gesellschaft an sich wurde seither logisch als Pyramide definiert, schön hierarchisch aufeinander gestapelt, je nach Macht und Einfluss (und Reichtum), je nach politischer Richtung etwas steiler oder flacher.

Unser Leben, d.h. der Generation, die ihre Prägung und Sozialisation in der vor-digitalen Zeit erhalten hat, ist voller solch linearer und geometrischer Bilder. Alles, was sich nicht in solche Formen fassen – oder pressen – ließ, galt als ungeordnet, als chaotisch, nicht akzeptabel, als intellektuell unanständig. Schon die Rundung, die sich mit der nie recht zu fassenden Kreiszahl π einer klaren Definition entzog und deshalb als irrationale bzw. transzendentale Zahl gilt, war schon etwas anrüchig.

Wirre Zahlenmuster

So gesehen ist die Akzeptanz der Digitalität zugleich ein kulturelles und ästhetisches Problem. Zum einen fehlen uns die Bilder, die euklidischen Symbole, um die Digitalität in unserem Denkgebäude heimelig unterbringen zu können.

Die Idee, sich statt schöner linearer Verläufe oder vertrauter euklidischer Formen bei der Digitalität eine Unmenge erratisch verteilter Zahlen oder eine wirre, unendliche Folge von „Nullen“ und „Einsen“ vorstellen zu können, tut regelrecht körperlich weh. Man denke nur an die ewig gleichen, untauglichen Versuche, Programme und digitale Daten grafisch oder optisch irgendwie darstellen zu können.

Nebulöse Wolken

Nicht umsonst hat man sich schließlich auf ein solch nebulöses Symbol wie eine Wolke geeinigt, um die Unmenge von Datenkonvoluten in Grafiken und Funktionsplänen darzustellen. Daraus wurde letztendlich, dass wir unsere Daten jetzt in einer „Cloud“ speichern.

Weil die reale physikalische Heimat von global in Speichern und Rechnern wild herum vagabundierenden Daten nicht mehr zu lokalisieren ist, wurde der „nebulöse“ Begriff einer Wolke („Cloud“) gewählt. Ein wahrer Tort für unsere klare Formen und Linien gewohnte Vorstellungskraft.

Eleganter Code

Ich habe wirklich während meines Studiums Ende der 70er-Jahre auch die Grundlagen des Programmierens gelernt. Am Ende des Grundkurses in „Logo“ konnte ich schon einfache Anwendungen programmieren. Als es dann aber daran ging, aberhunderte von Daten in Lochkarten zu erfassen und dafür ein Programm zu schreiben, gewann mein innerer Schweinehund haushoch gegen meine technische Neugier. Und die Rezeptionsforschung musste ohne solide Datenanalyse weiterhin im Ungefähren forschen.

Ich erinnere mich noch gut an die ersten Zusammentreffen mit Programmierern in den Frühzeiten des (deutschen) Onlinebusiness. Da war noch nicht die Rede von HTML und www. Damals dachte man – analog zum Erfolg von Compuserve – ausschließlich in eigens entwickelten, proprietären Programmen („Interchange“ von ZiffDavis!), mit denen Informationen und Daten – gegen Bezahlung, versteht sich – Abonnenten zugänglich gemacht werden sollten. Entsprechend hakelig und buggy war die Performance.

Die Faszination des Apfelmännchens

Damals hörte ich die Programmierkollegen das erste Mal von einem „eleganten“ Code sprechen. Das war mit einer derartigen Ehrfurcht und Bewunderung intoniert, dass mir sofort jeder Scherz darüber verging. Seitdem wurde mir allmählich immer klarer, dass meine hergebrachte Idee von Schönheit und Eleganz arg beschränkt war. Es gibt gerade auch in der digitalen Welt eine Schönheit und Eleganz. Nur leider entzieht sie sich wehrhaft aller Assoziation mit hergebrachten Schönheits- und Ebenheitsmodellen.

Wie, bitte, sollte man auch die wundersamen Multiplikations- und Exponential-Effekte von Netzwerken darstellen, wie Crowd-Sourcing, wie die Verknüpfung scheinbar disparater Daten, wie das Mashups tun? Wie soll man die positive Kraft sozialer Netzwerke grafisch umsetzen oder wie Location Based Services? Der einzige digitale Service, der hier vom Namen und dem grafischen Äquivalent überzeugen kann, ist Twitter (Zwitscherer) mit seinem allerliebsten blauen Spatzen.

Der Digitalität insgesamt fehlt ein faszinierendes Symbol, wie es dem Mathematiker Benoit Mandelbrot mit dem „Apfelmännchen“, der wunderschönen Visualisierung der Mandelbrotmenge, gelungen ist, der Unansehnlichkeit der Idee des „Chaos“ durch ein kultisches Symbol ein Ende zu setzen. Hier fehlt noch eine zündende und funktionierende Idee, wie Digitalität optisch attraktiv umgesetzt werden kann. Der grüne Datenregen in „Matrix“ war dazu ein ungeeigneter Versuch.

Disruptiv & chaotisch


Sicherheitsbedürfnis als Reichtums-Imperialismus

Die Klage ist allgegenwärtig. Die Zeiten sind härter geworden. Abrupte Änderungen geschehen innerhalb kürzester Zeit ohne große Vorwarnzeiten. Die Risiken steigen. Und nicht jedes Problem ist auch gleich eine Chance. Wie sollen auch Menschen oder Unternehmen mit massiven Problemen noch einen unbeschwerten Blick auf neue Chancen haben? Sie tunneln, unweigerlich.

Von außen sieht das meistens absurd und eigentümlich dumm aus. Aber wer sich jemals darauf eingelassen hat, seine eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten von anderen zeigen zu lassen – oder dabei war, wie das anderen passiert ist – der weiß, wie schwer es ist, seinen eigenen blinden Fleck zu sehen oder ihn gar zu akzeptieren. Er ist ja deshalb blind, weil es so weh täte, genau diese Schwäche unbarmherzig anzusehen.

Und in unserer schnellen, komplexen Welt haben wir nicht nur einen blinden Fleck, sondern ganze blinde Systeme. Und der verbreitetste blinde Fleck aller derer, die sich die alte – vermeintliche? – Sicherheit und Risikoarmut wieder herbei sehnen, ist der dahinter verborgene (weiße) Wirtschaftskolonialismus.

Die heutigen Unsicherheiten, Umbrüche und Risiken sind der eigentlich extrem erfreulichen Tatsache geschuldet, dass in den letzten Jahrzehnten Millionen und Abermillionen Menschen – vor allem in Asien (China, Indien, Tigerstaaten), aber sogar auch in Afrika – der schlimmsten Armut entkommen und sogar einen relativen Wohlstand erreichen konnten. Eindrucksvoll und visuell greifbar ist das in den historischen Wohlstands- und Gesundheitsgraphen von Gapminder umgesetzt.

Diese Wohlstandszuwächse (verbunden mit Gesundheitszuwachs = geringerer Sterblichkeitsrate = Bevölkerungszuwachs) belasten massiv unsere gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme, machen sie volatiler, sprunghafter und chaotisch. Sie sind in Unruhe, also auch turbulenter und schwerer beherrschbar (vielleicht sogar unbeherrschbar).

Aber das will keiner hören, keiner sehen. Denn das wäre eine Bankrotterklärung unserer Gesellschaftsselbsttäuschung. Etwa dass Politik ein Prozess des Machbaren ist, dass Wirtschaft gestalten kann und wir kein machtloses Rädchen sind. Dabei ist genau das die große gesellschaftliche Aufgabe, die große gesellschaftliche Chance zu einer Überwindung alter Dichotomien von Links und Rechts, von Oben und Unten, von Kapitalismus und Sozialismus – you name it…