Digital native products


Indianer von links, Indianer von rechts…

Es gibt Texte, da wird man als Journalist blass um die Nase, wenn man sie liest. Blass vor Neid, weil sie so gut sind. Ein Text, der sich mir in fast traumatischer Manier ins Gedächtnis eingefräst hat, erschien in der vierten Ausgabe des deutschen WIENER (August 1986). Dort beschrieb auf drei Druckseiten die österreichische Motor-Journalisten-Legende Herbert Völker in unnachahmlicher Art die Überführungsfahrt eines Ferrari GTO von Italien nach Salzburg. Am Steuer Niki Lauda, der neue Besitzer dieses GTO, den er für seine Verdienste für den italienischen Rennstall damals geschenkt bekommen hatte.

Eine Passage aus dem Artikel kann ich fast auswendig. Völker beschreibt die Geräuschkulisse des Ferrari bei Tempo 280. Zitat: „Als Schreiber ist man an dieser Stelle zu einem Wortbild verpflichtet, das Ihnen alle Urgewalt, Dröhnkraft, Nuancierung und Musikalität eines 400-PS-Ferrari nahe bringt. Wegen der beiden Turbos ist die Sache kompliziert. Man muss sich das so vorstellen: Indianer von links, Indianer von rechts, dazwischen siebentausend fliehende Büffel, hintendran sechzehn Coyoten, die hecheln und pfeifen. Der Rest geht im Lärm unter.“

Mit 421 PS in die Zukunft

Es hat dann genau 28 Jahre gedauert, bis ich selbst am Steuer eines Autos gesessen bin, das 400 PS hat, genauer gesagt 421 PS (310 kW). Und es beschleunigt in 4,4, Sekunden von 0 auf 100 km/h. Ein in des Wortes Bedeutung „atemberaubendes“ Erlebnis, wenn ein Auto so rücksichtslos mit der Körpersensorik umgeht wie dieses und einen bei Vollgas unbarmherzig in die Sitze presst. Und leicht traumatisch, wenn es auch jenseits der 100 km/h damit nicht aufhört.

Der große Unterschied dabei: die Lärmkulisse. Keine Indianer, keine Büffel und keine Coyoten, nix. Nur das Atmen der Mitfahrer ist hörbar. Und damit auch die Beschleunigung der Atemfrequenz der Wageninsassen mit zunehmender Geschwindigkeit. Kein Wunder, denn die 421 PS entstanden hier nicht in acht oder zwölf hektisch explodierenden Verbrennungskammern, sondern sie kamen aus vier Elektromotoren, je einer für jeden Reifen. Denn ich hatte das Vergnügen einen Tesla S fahren zu dürfen. (Danke, Muck!)

Der Genuss des elektrischen Fahrens

Man kann sehr ins Schwärmen kommen, wenn man das Fahren mit einem Tesla beschreibt. Vorausgesetzt, man ist nicht motorgeräusch-abhängig. Ich habe jedenfalls reichlich Kontra bekommen, als ich meinen auto-affinen Freunden vom Tesla vorgeschwärmt habe. Diese Liebhaber von Porsches, schnellen Mercedes und Audi waren gleich mit heftiger Kritik und haufenweise Gegenargumenten unterwegs, warum man Tesla kein vollwertiges Auto ist. Die Reaktion erinnert mich an das starrsinnige Festhalten vieler meiner Generationsgenossen und Freunde an der Vorstellung, dass nur vollwertige Medien sind, wenn sie auf Papier gedruckt sind oder per Funksignal auf dem TV erscheinen.

Ein Auto ohne Krach, Gestank und Ölverbrauch ist für viele Menschen – noch? – nicht vorstellbar. Mich befiel nach knapp 10 Minuten Probefahrt mit dem Tesla das Gefühl – nein, ich war mir sicher, das in spätestens zehn Jahren das Fahren mit Benzin verbrauchenden, lärmenden und Kohlenwasserstoff und Gifte ausstoßenden Vehikeln ebenso verpönt, bäh und unkorrekt sein wird, wie heute im Auto eines Nichtrauchers eine Zigarre anzuzünden – oder im Kreise von Veganern ein blutiges Steak zu verzehren. Und man wird sich wundern, warum die Menschheit so lange gebraucht hat drauf zu kommen, dass es viel sinnvollere und nötigere Verwendungszwecke von Öl und Benzin gibt, als das man diesen Stoff verbrennt, um von A nach B zu kommen. Vor allem, weil es so viel angenehmer, smarter und bequemer ist, elektrisch zu fahren.

Digital native Produkte

Der Grund meiner Begeisterung für Tesla ist dabei gar nicht so sehr der ökologische Faktor. Es ist der umfassende Komfort dieses Autos. Das fängt bei der Fahrleistung und der Geräusch-Schonung an und reicht weiter über die Service-Leistungen bis hin zum Bedienungskomfort. Der Tesla ist nämlich in Wahrheit ein wunderschön großes, einfach zu bedienendes Tablet, das die Mittelkonsole dominiert, mit einem Lenkrad zur Linken und vier Rädern unten dran. Zugegeben, eine schön designte und mit vielen intelligenten Features angereicherte Karosserie drumherum.

Der Tesla ist, und das steht im Kern meiner Begeisterung, ein digital natives Produkt. Es stammt aus der digitalen Gegenwart und ist für unsere digitale Zukunft gebaut. All die anderen Autos stammen aus der industriellen Vergangenheit und sind mit Computern und digitalen Assistenzsystemen angereichert. Dafür müssen Keilriemen und Antriebswellen Elektrizität erzeugen und weitere analoge Systeme deren Befehle wieder mechanisch umsetzen. Das hat der Tesla eben nicht nötig. Daher gibt es dort keine störenden Tunnel im Fahrgastraum, daher gibt es keinen Ölwechsel, keine platzenden Kühlwasserschläuche und andere Unsäglichkeiten. Er ist ein Auto, das zu allererst von Programmierern konzipiert und dann ingenieurisch umgesetzt worden ist. Bei den konventionellen Autos ist es umgekehrt, da steht der Ingenieur im Mittelpunkt und Programmierer werden nur notgedrungen geduldet, wenn es denn sein muss.

Digitale Business-Modelle

Das ist der Vorteil aller digital native Produkte. Sie sind originär und zentral für das digitale Zeitalter konzipiert und nicht mühsam und ungenügend und mit viel Kompromissen an die digitale Neuzeit nachgerüstet. Daher funktionieren mit ihnen ganz andere Businessmodelle und daher sind ganz andere Service-Optionen möglich. Das gilt für viele digital native Produkte und Services – und deswegen tun sie allesamt den etablierten Produkten und Services weh, egal wie sehr sie sich um digitales Aufhübschen bemühen. Und deshalb sind die Wächter des Undigitalen, vorneweg die Politik und die Verwaltung immer schnell dabei, den Startvorteil der digital nativen Angebote durch Verbote zu behindern oder zu verunmöglichen.

Chris Dixon, Partner des Hedge Fonds Andreessen Horwitz und Investor in Buzzfeed, bringt die besondere Qualität solcher Firmen in seinem Blog auf den Punkt: „BuzzFeed is a media company in the same sense that Tesla is a car company, Uber is a taxi company, or Netflix is a streaming movie company.“ Sie alle sind es in dem Sinne, dass sie digital native sind und keine Kompromisse mit überkommenen Ideen und Konzepten vornehmen (müssen). Und sie sind es nicht, wenn man sie an den etablierten Erwartungen der jeweiligen Produktkategorien misst. Denn sie bieten so viel mehr als die „analogen“ Vorgänger.

Die Vorteile der Digital Natives

Tesla ist nicht nur ein Tablet auf Rädern, sondern auch ein Netzwerk von Ladestationen, Fahrern und Afficionados. Netflix ist nicht nur ein Streaming Service, sondern die größte Abstimmungsplattform von Filmen mit einer grandiosen Empfehlungsqualität. Buzzfeed ist der wohl radikalste Ansatz eines populären Mediums, zugleich populistisch und anspruchsvoll, das User auf wirksame Weise einbindet und die Grenzen zwischen Werbung und Redaktion neu definiert. Uber ist ein persönlicher Mobilitätsservice und zugleich ein Bewertungs-Netzwerk von Mobilitäts-Service. (Das sollten mal Taxivereinigungen hinkriegen, dass man die Fahrer und Autos und deren Service bewerten kann!)

Die Liste ließe sich locker fortsetzen. Airbnb ist keine Zimmer-Vermittlung, sondern mit seinem Netzwerk von Empfehlungen und Bewertungen ein echter City- & Fremdheitsintegrator von Reisenden. Wikipedia ist eben kein elektronisches Lexikon, sondern eine Plattform, auf der die verschiedenen Wahrheits- und Wissensvarianten von Themen einvernehmlich integriert werden (oder nicht, wie beim Beispiel Scientology). Facebook ist kein elektronischer Freundeskreis-Organisator, sondern für viele junge Menschen deren vornehmlicher Erfahrungskosmos im Internet. Und Google ist nicht nur eine Suchmaschine, sondern der weltgrößte private Datensammler und die größte Keyword-Versteigerungsplattform.

Die Deployment-Phase

Chris Dixon beschreibt ganz richtig die heutige Zeit als die Deployment Phase des Computers, die Zeit der vielfältigen Anwendung, die auf die Installationsphase folgt. Und in dieser Phase gewinnen die Produkte, die originär die Vorteile der digitalen Zeit nutzen, gegenüber denen der industriellen Vorzeit, egal wie sehr sie und wie gut sie digital erweitert sind. Das genau erlebt man sogar rein physisch, wenn man einen Tesla fährt.

Herbert Völker schrieb damals vor fast 30 Jahren, würde nicht der Motor acht Zentimeter hinter seinen Ohren so laut arbeiten (Mittelmotor!), wäre es in dem so genial designten Ferrari so „still wie in einer geräumigen Kathedrale“. Er hat schon vor knapp 30 vorausgeahnt, wie ein Tesla klingt. Dass er ebenso gut fährt, konnte er kaum ahnen.

Macht doch was!


Wie Machtinteressen unsere Zukunft bestimmen

Ich bin in einer Kleinfamilie aufgewachsen, in der die Machtfrage geklärt war. Papa verdiente das Geld, war politisch tätig. Er war intelligent und war extrem gut darin, die Welt mit viel Wissen und Toleranz zu erklären. (Das habe ich von ihm geerbt. – – – Das mit dem Erklären, meine ich…) Aber er war total unpraktisch – und an Macht offensichtlich wenig interessiert.

BonnEntsprechend hatte bei uns zuhause Mama das Sagen. In Sachen Finanzen und Organisation allemal. Zu Auseinandersetzungen kam es eher selten. Meine Mutter war klug genug – und liebte ihren um 17 Jahre älteren Mann genug, um ihn nach außen immer gut aussehen zu lassen. Bella Figura war wichtig. Nicht nur, weil meine Eltern schwer italophil waren, sondern auch katholisch. Und da war es bei aller Sündvermeidung doch auch sehr wichtig, das auch nach außen zu zeigen. Bis hin zum Pharisäertum.

Kein Weg nach Bonn

Nur einmal in dem von mir beobachteten Leben stellte mein Vater die Machtfrage. Er war gefragt worden, ob er nicht auf der Liste der CSU (sic!) für die Bundestagswahl kandidieren wolle. Auf einem Listenplatz ganz weit unten. Aber bei den Wahlergebnissen der CSU in den 60er-Jahren befürchtete meine Mutter das Schlimmste: nämlich einen Bundestagsabgeordneten im Haus – oder schlimmer: in Bonn.

Da ging es eine Zeit lang bei uns zuhause hoch her. Irgendwann drohte meine Mutter sogar mit Scheidung. Eine für Katholiken wirklich ultimative (und eigentlich unmögliche) Drohung. Irgendwie hatte Bonn wohl damals keinen besonders guten Ruf. Bald nach dieser Drohung versandeten jedenfalls die politischen Ambitionen meines Vaters.

Da mein Vater früh starb, blieb ich das einzige und zentrale Opfer der Machtselbstverständlichkeit meiner Mutter (die sie von ihrer dominanten Mutter geerbt haben musste). Entsprechend hoch, konfliktgeladen und leider auch sehr lieblos ging es dann für mehrere Jahre zwischen uns her, als ich mit 17, 18, 19 aufbegehrte. (Das geschah einst später als heute. Volljährig war man ja auch erst mit 21.)

Die Machtfrage haben wir zwischen uns nie klären können. Ein schwerer Schlaganfall machte diese Frage schließlich irrelevant. Dann war nicht mehr Konflikt angesagt, sondern möglichst liebevolle Pflege.

Hierarchien müssen gepflegt werden

Entsprechend wenig machtbegabt bin ich gewesen. Das hat mich im Beruf so manche Karrierechance gekostet, dafür habe ich aber meist in gutem Arbeitsklima arbeiten können. Kooperation und Respekt bringen halt mehr zustande als Aggression und Hahnenkämpfe. Aber das sieht halt nicht jeder so. Als wir kurz vor dem Start von Europe Online jeder 12 bis 14 Stunden arbeiteten und unsere Büros bis in die tiefe Nacht hell erleuchtet blieben, bekam ich von höchster Stelle den dringenden Hinweis: „Sie müssen Ihre Leute härter anpacken.“

Ich verstand diesen Wink damals einfach nicht. Aber in einem Machtsystem, das auf formellen Hierarchien aufgebaut ist, darf keiner aus der Reihe tanzen. – Genau das ist bis heute das Problem der etablierten Medienhäuser – egal wie modern und digital sie sich geben. Sie meinen, ihre hierarchischen Methoden und ihre Machtpositionen nicht aufgeben zu dürfen. Wahrscheinlich können Sie es auch nicht. Vor allem aber wollen sie es nicht. Es ist viel von einem Menschen verlangt, der sich in solch einem System mühsam nach oben gekämpft hat, oben angelangt dann freiwillig auf alle Privilegien verzichten zu sollen.

Jede Veränderung ist ein Risiko

Und Machtmenschen wollen ihre Macht auch gar nicht abgeben. Dazu ist sie wohl zu schön. (Habe ich mir sagen lassen.) Die Kleingeister unter den Mächtigen klammern sich an die Macht und ihre Privilegien – irgendwie wollen sie es unbeschadet bis in die Verrentung schaffen. Dass sie ein System dabei offenen Auges gegen die Wand fahren, ist ihnen egal. Hauptsache sie springen vor der Klippe vom in den Abgrund rasenden Wagen noch rechtzeitig ab. Was nach ihrem Abgang passiert, interessiert sie nicht. James Dean lässt grüßen.

Diejenigen aber, die wirklich mächtig sind, nutzen ihre Macht skrupellos, vorrangig dazu, um ihre Macht für sich und Ihresgleichen zu erhalten und zu zementieren. Das heißt für sie, möglichst viel Veränderung und Innovation zu fordern und zugleich dafür zu sorgen, dass möglichst wenig davon Realität wird. Denn jede Veränderung, jede Innovation, jeder Evolutionssprung ist für sie eine reelle Bedrohung. Denn danach könnten die Karten (der Macht) ja neu gemischt und man selbst nicht unter den Gewinnern sein.

Die Gefahr der digitalen Macht-Erosion

Wer sich heute wundert, was in unserer Welt gerade los ist, ob in Russland, in China, in den USA oder hierzulande. Wer sich über die skrupellose Ignoranz beim Thema NSA, Überwachung und Bürgerrechte wundert. Wer sich fragt, wie plötzlich in Ost wie West die alten Militarisierungsreflexe wieder ausbrechen können. Wer sich fragt, was denn auf einmal mit der Freiheit und Mitsprache versprechenden digitalen Welt passiert. Sie alle haben nicht verstanden, dass gerade mit allen, wirklich allen Mitteln versucht wird, das überkommene Machtverhältnis zu erhalten bzw. wieder herzustellen.

Die politische Klasse hat inzwischen überall in der Welt realisiert, wie sehr neue basisdemokratische und partizipatorische Optionen, die das Internet samt Social Media bietet, ihre Macht zu erodieren drohen. Daher sind die Herren Politiker nur allzu sehr bereit, dem wahren Mächtigen, der auch um seine Macht Sorge hat, brav zu Diensten zu sein: dem großen Geld. Den großen Besitzenden der Welt sind die Newcomer einer neuen Weltordnung längst ein Dorn im Auge: Google, Facebook & Co.

Freiräume werden kleiner – und virtuell

Daher die Angriffe auf diese Newcomer im Bund der Mächtigen. Das sind Drohungen, die dafür sorgen sollen, dass sie im Orchester der Macht brav mitzuspielen beginnen – und nicht auf die Idee kommen, die Macht nach unten verteilen zu wollen. Fast hat man den Eindruck, dass diese Drohungen in Richtung der Newcomer schon gefruchtet haben.

Wie gesagt, ich habe von Macht nur beschränkt Ahnung. Aber wenn man am eigenen Leib spürt, wie Freiräume kleiner werden und eher nur noch virtuell sind, wenn man realisiert, wie Freiheiten beschnitten werden, dann kann das nicht von ungefähr kommen. „Cui bono“ habe ich einst im Lateinunterricht gelernt: Wer hat davon einen Vorteil? Und es ist ziemlich klar, dass das nicht wir kleinen Allerwelts-User des Internets sind. – Wie gesagt: Wenn ich etwas von meinem Vater gelernt habe, dann das Talent, die Welt zu erklären. Jetzt müsste ich nur noch lernen, Macht gegen die Mächtigen zu organisieren…

Der Utopie-Test


Wie sähe der perfekte Datenschutz in einer idealen Welt aus?

Die Reaktionen auf die Enthüllungen der umfassenden Bespitzelung der (unserer) Welt durch die amerikanische NSA (National Security Agency) sind mehr als zurückhaltend. Die große Mehrheit der nicht-digitalen Deutschen versteht die Aufregung nicht oder fühlt sich in ihrer Ignoranz gegenüber der digitalen Welt nur bestätigt. Konservative bis rechts-bürgerliche Kreise und alle sicherheits-paranoiden Menschen finden so eine Bespitzelung gegen Terroristen, Attentäter und Kriminelle sowieso gut. Für die kann man gar nicht genug schnüffeln – FAZ.net sieht hier sogar einen modernen Gottersatz im Entstehen.

Sandburgenterrorismus: Gibst du mir nicht deine Förmchen, mache ich deine Burg kaputt...
Sandburgenterrorismus: Gibst du mir nicht deine Förmchen, mache ich deine Burg kaputt…

Und die Linke: Die fühlt sich in ihren schlimmsten Befürchtungen – endlich einmal – bestätigt und nimmt die Tatsache mehrheitlich mit einem erleichterten Schulterzucken zur Kenntnis. Man hat es sowieso immer schon gewusst. Und die Bösen sind praktischerweise die Amerikaner. Was will man mehr. – Bleiben als Opposition wenige Internet-Aktive, Links-Liberale und eine kleine Minderheit von um Freiheit und Demokratie bangenden Menschen. Die etablierte Politik ist vorrangig mit Wahlkampf beschäftigt und viel zu weit von der Thematik entfernt („Neuland“!) und hält mangels echter Handlungs-Alternativen erst mal die Füße still. Ganz still.

Eine Demokratie-Utopie

Aber denken wir uns versuchsweise einmal kurz in eine ideale Welt, wagen wir eine Demokratie-Utopie. In ihr sind alle vernünftigen Demokraten und denkenden Menschen entsetzt über die Spitzelpraxis der USA und es entsteht eine echte Protestbewegung – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa (wahrscheinlich ohne Großbritannien), in Südamerika, Kanada etc. Vielleicht sogar in Teilen Asiens und des Mittleren Osten. Gerne jeweils auch unterstützt aus Eigeninteresse von der Wirtschaft, die sich nicht so mir-nichts-dir-nichts ausspionieren lassen will bzw. überflüssigerweise ihre Daten teuer und Abläufe komplizierend sichern müssen.

Würde so etwas passieren, müsste – und würde – die Politik reagieren. Und einmal angenommen, es würden nicht nur ohnmächtige Kommissionen gegründet und zahnlose Resolutionen verabschiedet, sondern man wollte wirklich effektiv handeln, was wäre dann zu tun? Welche Optionen hätte dann die freie, kritische, nicht-amerikanische Welt? Richtig: Mit Obama ein ernstes Wort reden. Guter Scherz. Denn was soll der tun? Seine Pauschal-Rechte an die NSA zurücknehmen? Die Geheim-Gerichte an die Kandare nehmen, die die amerikanischen Internet-Giganten nach Gutdünken gängeln und über deren Agieren keiner reden oder gar schreiben darf.

Catch 22 der Geheimdienste

Wie soll das aber gehen? Es ist doch kein Zufall, wie Obama vom liberalen Politiker zum Ordnungs-Fanatiker und willigen Geheimdienst-Förderer mutiert ist. Verschwörungstheoretiker mögen dazu ihre eigene Version spinnen. Aber wie soll ein amerikanischer Präsident seinen Parteigenossen oder gar den Republikanern erklären, nicht alles Mögliche zu tun, um Terroranschläge zu vermeiden. Und je mehr die Geheimdienste bei ihren Prognosen versagen (siehe Boston), desto mehr finanzielle Ausstattung, desto mehr Zugriffsrechte werden sie bekommen. Das ist die perverse Logik eines Volkes, das in seiner kollektiven Psyche zutiefst ängstlich ist bis hin zur Paranoia. Eine echte Catch 22-Situation.

Und zugleich weiß Obama, dass der „Rüstungswettlauf“ in Sachen digitaler Kontrolle längst in vollem Gang ist. China und Russland, Frankreich und Großbritannien, Israel oder auch der Iran sind eifrige Mitbewerber und dazu Outcasts wie Syrien und allerlei kriminelle Organisationen. Dafür kennt der Aufwand der USA keine Grenzen. Die USA in ihrem Anspruch als Führungsmacht müsste da ganz vorneweg gehen. Daher die so großzügige Ausstattung der NSA, daher der Bau gigantischer Datenspeicher, die dafür ausgelegt sind, den weltweiten Datenverkehr über Jahre hinweg komplett abzuspeichern, daher die Aufweichung aller Datenschutzgesetze. Kurz: Ein amerikanischer Präsident kann – und will – gar nicht anders als wie jetzt geschehen.

Eine europäische Alternative

Jeder Versuch, Amerika von seinem bösen Tun abbringen zu wollen, ist also per se zum Scheitern verurteilt. Und wie sehr sich die großen Internet-Giganten Google, Facebook, Yahoo und Microsoft und all die US-amerikanischen Social Media Provider auch gegen staatliche Zugriffe wehren mögen, um für Kunden außerhalb der USA attraktiv zu bleiben, sie haben keine Chance. In einer idealen Welt, in der etwa Europa nicht das Internet (immerhin in Genf am CERN mit erfunden!) und die Wucht der digitalen Vernetzung verkannt hätte, wäre das die perfekte Gelegenheit, gleichwertige nicht-amerikanische Features (Mail, Kalender, Speicher etc.) und Social Media Services anzubieten und glaubhaft mehr Schutz gegen systematisches Ausspionieren anzubieten.

Internet-Features bieten etwa „1& 1“ oder die Deutsche Telekom an. Doch in welcher Qualität? Trotzdem scheinen sie mehr Zulauf zu erleben. Aber es gibt keinerlei Ansätze, eine ähnlich überzeugende Integration von Services (Suche, Maps, Produktivsoftware, Blogs etc.) wie bei Google oder Yahoo samt deren überzeugende Werbekraft zu entwickeln. Dafür gibt es auch kaum eine Chance. Das hat Microsoft mit seinen immer neu gescheiterten Bemühungen eindrucksvoll bewiesen. Stichwort: „Bing“.

Wo, bitte, ist der Weiße Ritter?

Zweiter Utopie-Ansatz: Und selbst wenn es möglich wäre, ein Google außerhalb der USA zu etablieren. Wo sollte das möglich sein? Technologisch, wirtschaftlich – und politisch. Wo sollten da die Server stehen, dass sie vor dem Zugriff der Amerikaner sicher wären? Da fällt jedes NATO-Mitglied aus, jedes Land der westlichen Allianz. Ja es müsste ein Land geben, das sich wirklich mit ernst gemeinten Datenschutzbemühungen (und entsprechender Gesetzgebung) profilieren möchte. Dabei wird man nicht einmal im sonst so korrekten Skandinavien fündig. Man erinnere sich nur an die schwedische Willfährigkeit gegenüber den USA im Fall Assange. Bleibt Island als Alternative. – Lächerlich, dafür ist es wirtschaftlich viel zu mickrig und angreifbar.

Und selbst wenn es unter den Staaten dieser Welt ein Äquivalent zu einem Weißen Ritter gäbe: einer, der es gut meint, der die Privatsphäre konsequent schützt, der technisch versiert genug ist, gegen die Spionageversuche aller anderen zu bestehen und wirtschaftlich stark genug ist, solch einen Weg durchzuhalten. Solch ein Staat wäre aus aller Welt unter Beschuss. Politisch und medial, weil er Terroristen und Verbrechern Schutz bietet. Technisch würden alle Konkurrenten, nicht nur die USA, alles daran setzen, ausgerechnet diese Schutzsphäre so schnell und so umfassend wie nur möglich zu knacken. Und politisch und wirtschaftlich wäre solch ein Land in kürzester Zeit völlig isoliert.

Koexistenz mit den Schnüfflern

Selbst in der erträumbarsten aller Welten scheint es also keinen gangbaren Ausweg aus dem Überwachungs-Dilemma zu geben. Das klingt schlimm pessimistisch. Aber bekanntlich sieht sich jeder Pessimist als Realist. Bliebe als private Alternative die Flucht in die Verschlüsselung aller Daten, die man versendet – und der Ausstieg aus allen Aktivitäten in Social Media. – Aber ist das die Alternative? Einige, natürlich deutsche Datenschützer empfehlen so etwas allen Ernstes. Die digitale Isolation von allen Menschen um einen herum. Der Abschied aus Facebook und allen seinen Freunden. Die Außerdienststellung der Smartphones samt ihrer intelligenten (weil vernetzten) Technologien? Die Versendung kryptischer, oft nicht ankommender, von kaum einem zu öffnender Emails?

Die Flucht in die Verschlüsselung aller Kommunikation kann nicht die Lösung sein. Das Argument, damit würde man es der NSA und allen verwandten Datenschnüfflern wenigstens schwerer machen, ist Sandkasten-Terrorismus: Wenn du mir nicht deine Förmchen gibst, mache ich deine Sandburg kaputt. Oh Gott, nein!

Unkaputtbare Solidarität als Sicherung

Die Wahrheit ist hart und unangenehm. Wir müssen mit der Schnüffelei leben – wir müssen unsere Gesellschaft und unsere Politik darauf einstellen. Vor allem aber müssen wir eine unkaputtbare Solidarität zueinander entwickeln – politisch, sozial und digital – so dass offensichtlicher Missbrauch nicht möglich ist – und sofort geahndet werden kann. So dass unsere Gesellschaft und unser demokratisches System leben und funktionieren.

Denn nur darin sind wir – absehbar – sicher. Schlimm wird es, wenn die Überwachungsmethoden und das daraus gewonnene – vermeintliche – Wissen in die Hände von (demokratisch) unkontrollierbaren Mächten gerät. Das kann sehr schnell passieren. Man sehe  nur nach Ungarn zu Herrn Orban. Oder es entstehen Mächte, in denen es dem Geheimdienst egal ist, welches Parlament und welcher Präsident unter ihnen regiert. (Ex-FBI-Chef Edgar Hoover lässt grüßen…) – Oder sind wir in den USA längst schon so weit? Fast mag es danach aussehen…

Edgar Hoover lässt grüßen...
Edgar Hoover lässt grüßen… – der schwarze Ritter

Die Pluralisierung der Renditen


2012 – Das Jahr der Konflikte ums Digitale

Was für ein Jahr! Ich kann mich nicht erinnern, wann sich der Alltags-Lifestyle im Alltag so schnell und massiv wie im Jahr 2012 geändert hat. Bei meinen Fahrten mit der S-Bahn nach München hinein ist die Veränderung mit „Händen zu greifen“. Statt Zeitungen und Bücher werden jetzt mehrheitlich Smartphones, eBook-Lesegeräte und Tablets in Händen gehalten. Nur noch Senioren lesen Zeitungen, nur noch wenige Frauen lesen Bücher. Der massive Wechsel zur digitalen Kommunikation und Rezeption – und das vorrangig mit mobilen Geräten – ist atemberaubend und „erschütternd“.

SchlossStatueRechtsEr erschüttert das Medien- und das PC-Business. Medien werden nicht mehr auf Papier konsumiert, bestenfalls per Tablet oder Smartphone. Der PC, wie wir ihn kennen, hat großenteils ausgedient, das Notebook wird zum Auslaufmodell. Sobald ein Tablet oder ein eReader im Haus – und unterwegs dabei ist – wandern die Daten von der Festplatte in die Cloud. Und die Daten, die wir zu unserer Unterhaltung brauchen, ob Musik, Bild oder Video, kommen von da her – sei es von Google (samt YouTube), Amazon, Apple oder Facebook (samt Spotify). Yahoo und Microsoft versuchen verzweifelt mitzuhalten.

Der organisierte Widerstand

So massiv die Veränderung, so verbreitet der Wechsel zum Digitalen im letzten Jahr war, so energisch – und erstmalig koordiniert – gestaltete sich der Widerstand der Medienunternehmen gegen die digitale Konkurrenz. Dabei waren die Versuche, ein Leistungsschutzrecht (vulgo: Lex Anti-Google) politisch durchzudrücken, nur die Spitze des Eisberges. Dazu kamen Berge von Artikeln, die vor der digitalen Welt warnten, die hysterisch Katastrophen prognostizierten (Untergang der Privatsphäre u.a.) und natürlich massiv gegen die neuen Multis und Giganten der digitalen Welt agitierten: Google, Facebook, Apple und Amazon. (Microsoft gehört plötzlich zu den Guten?)

2012 war das Jahr, in dem die großen Medienhäuser plötzlich unisono Propaganda in eigener Sache machten: Stichwort „Qualitäts-Journalismus“. Als hätten Zeitungen den freien Journalismus erfunden. 2012 war das Jahr, in dem sich Politiker, fast quer durch alle Parteien, für den Widerstand gegen die amerikanischen digitalen Mega-Unternehmen einspannen ließen. Die einen aus Naivität, Unwissen oder Ignoranz, die meisten aus Lobby-Gründen, etliche vielleicht auch, weil sie ahnen (oder wissen), dass der digitale Wandel längst die Politik in den Grundfesten zu erschüttern beginnt. Obama hat es vorgemacht, wie Wahlen per Social Media gewonnen werden können, selbst wenn man eigentlich auf verlorenem Posten steht.

Die Prognose für 2013 ff

Man könnte ein Leistungsschutzrecht als verschrobene Folklore eines leicht verschreckbaren Volkes in der Mitte Europas abtun. Besser man nimmt es (sehr) ernst, was da droht. Denn eines ist sicher: Es wird 2013 und in den Folgejahren alles noch viel dramatischer kommen. Immer mehr Branchen werden vom digitalen Wandel erfasst und in ihren Grundfesten erschüttert werden. Entsprechend wird der Druck dieser Industrien auf die Politik wachsen, etwas gegen die business-bedrohenden Veränderungen zu tun. (Motto: Arbeitsplatzverluste etc.). Und die Bereitschaft der Politik, massiv gegen solch grundlegende Veränderungen einzuschreiten, wird wachsen. Schon aus reiner Selbsterhaltung.

Denn noch immer glaubt man in weiten Teilen von Industrie und Wirtschaft, man könne sich gegen den digitalen Wandel und seine disruptiven Auswirkungen wehren. Man müsse nur den digitalen Mega-Firmen Einhalt gebieten und das Internet endlich effektiv regulieren, dann wird alles nicht ganz so schlimm. (China, Iran und Nordkorea machen es doch vor!) Und so wird eifrig Lobbyarbeit betrieben mit dem Ziel, dem Wandel Einhalt zu gebieten. Oder wenigstens möglichst viel Zeit herauszuschinden, bis die bisherigen Business-, Karriere- und Boni-Modelle endgültig ausgedient haben. Dass dabei unsere sowieso schon fragile, innovationsträge Wirtschaft ernsthaft gefährdet und jegliche Zukunftsfähigkeit vernichtet wird – völlig egal.

Das wird schon wieder

Es ist fast rührend zu beobachten, wie gerne so getan wird, als ob die disruptiven Brüche nur für die Medienbranche gelten. Man muss nur dagegen halten, dann ist der digitale Spuk bald vorbei. Dabei wird chronisch übersehen, dass der digitale Wandel systemisch ist. Dass er die Machtverhältnisse zugunsten der Kunden unumkehrbar verschiebt. Dass er völlig neue Verfügbarkeiten schafft, die nur allzu gern genutzt werden, weil sie der Mehrheit (der Konsumenten) sofort Vorteile bringen. Natürlich zu ungunsten der bestehenden Businessmodelle – und bestehender Jobs und Verdienstmöglichkeiten. Die Medienbranche ist nur die Vorhut. Alle anderen Branchen werden folgen.

Dass nach und mit dem Umbruch so viele neue, attraktive Geschäftsmöglichkeiten und Jobs entstehen, wird nicht gesehen. Diese neuen Jobs werden nicht nach denselben Regeln funktionieren und nicht identische Gewinnmöglichkeiten wie einst bieten. Das ist logisch, weil es sich eben um einen grundlegenden Umbruch handelt – vom Industriezeitalter zum digitalen Netzwerkzeitalter. Einst waren die Machtstrukturen streng hierarchisch. Jetzt aber werden am Ende des Industriezeitalters die hierarchischen Systeme durch dynamische Netzwerksysteme abgelöst. Entsprechend waren die Margen und Renditeoptionen des industriellen Zeitalters aufgrund von begrenztem Zugang zu Produktionsmitteln, Distribution und Märkten riesengroß.

Pluralisierung von Gewinnen

Der digitale Wandel beendet diese eindeutigen, hierarchischen und – nennen wir sie monolithischen – Gewinnoptionen. Statt weniger, dafür umso ergiebigerer Renditen (bei Medien einst: Verkäufe und Anzeigen) sind die Gewinne – und die Option darauf – heute demokratisiert und pluralisiert. Jeder hat die Möglichkeit, am Markt teilzunehmen. Jeder kann selbst Unternehmer und/oder Händler werden. Das ist viel einfacher, schneller und unkomplizierter möglich. Dies aber nur unter der Bedingung, dass die Gewinnmöglichkeiten entsprechend pluralistisch sind. Sprich, sie fallen in der Regel jeweils geringer aus und stehen allen offen. Entsprechend ist der Wettbewerb größer. Das macht aber nichts, weil genügend Renditeoptionen parallel nebeneinander bestehen – was erst seit der digitalen, entrepreneurs-pluralistischen Ära möglich ist. Und außerdem können Netzwerkeffekte helfen, die minimalen Einnahmen ansehnlich zu multiplizieren.

Das alles braucht aber ein anderes, kleinteiligeres Denken, es braucht mehr und schnellere Innovation, denn in der digitalen Welt wird jede gute Idee sofort kopiert. Der einzige funktionierende Schutzraum dagegen ist die extreme Nische. Wer aber im Massenbusiness tätig ist, steht voll im Sturm der Veränderung. Das erlebt neben dem Medienbusiness bereits heftig der Einzelhandel, speziell der Elektronikhandel. Hier werden wir 2013 und in den Folgejahren massive Veränderungen erleben. Und es wird nicht mehr lange dauern, bis in vielen anderen Branchen, die bislang vor massiven Veränderungen verschont geblieben schienen, heftige Umbrüche passieren werden. Hier nur einige Beispiele:

  • Das Banking Business: LendingClub.com und Zopa oder Kickstarter und Startnext u. a. zeigen, dass wir Kunden irgendwann auch ohne Banken, wie wir sie heute kennen, auskommen können, wenn wir Projekte finanzieren wollen.
  • Die Gesundheitsbranche: Mobiles Monitoring, Crowd-Coaching, Gensequenzierung, 3-D-Modelling & -Printing u. a. werden das Business extrem verändern und massiv Berufsbilder „verändern“.
  • Der komplette Bereich der Bildung. Die Khan Academy u.a. ermöglichen es (vorerst noch auf Englisch), den kompletten Schulstoff zu Hause in Eigeninitiative zu lernen – und das mit echtem Spaß. (Wie ich selbst getestet habe.) Oder Udacity und Codecademy führen in die Computer-Technologie ein. – Alles natürlich gratis.
  • Die Tourismusbranche: Hotels und Restaurants müssen sich auf hochindividualisierte Privat-Konkurrenz einstellen müssen. Der Erfolg von AirBnb zeigt, wie neue „Privatmärkte“ im Tourismus prosperieren können.
  • Die (Auto-)Mobilbranche: Der Wandel von Besitz zu Nutzung, von der Kombustion zur Elektrik wird neue Autotypen und völlig  neue Businessmodelle im Bereich der Mobilität bringen.
  • Die Werbebranche: So wie sie ist, hat sie systemisch abgewirtschaftet, da zu analog (kreativ-narzisstisch statt kundenorientiert) und hierarchisch (one to many). Es muss social, kundenbezogen und interagierend werden. Coca Cola probiert schon mal aus, wie werbliche Kommunikation auf Augenhöhe mit den Kunden aussehen könnte.
  • etc. etc. etc.

Alles Gute für 2013… 2014… 2015… …

Ich denke, man kann sich ausmalen, wie die Welt 2013 und den Folgejahren aussehen wird, wenn all diese Branchen und etliche mehr anfangen, gegen die Digitalisierung (politisch) aktiv zu werden, weil sie um ihr Business, um ihre Renditen, um ihre Karrieren und ihre Jobs Angst bekommen. Fast möchte man froh darum sein, dass die digitalen Widersacher der etablierten Industrie (Google & Co.) inzwischen so groß, mächtig und reich geworden sind, dass sie auch auf dem gesellschaftlichen und politischen Parkett Paroli bieten können.

In diesem Sinne: Alles Gute für das Jahr 2013… etc.

Die Daten-Mehrwertsteuer


Leistung geht vor Schutz geht vor Recht

Jetzt scheint die Lobbyarbeit der Verlage doch noch Erfolg zu haben. Das Bundeskabinett hat beschlossen, dass Content-Aggregatoren, also vor allem Google News, den Verlagen für die von ihnen zitiert Inhalte Geld zahlen sollen. Das ganze nennt sich Leistungsschutzrecht und ist die Bankrotterklärung der deutschen Zeitungsverleger vor der digitalen Neuzeit. Und weil das Thema ja sowieso gerade heiß ist, wird das ganze als Verbesserung des Urheberrechts verkauft. Kurios nur, dass sich die Politik dafür vereinnahmen lässt. So tief kann doch die Freundschaft zwischen Angela Merkel und Friede Springer & Konsorten nicht sein? Und warum versteht eine diplomierte Physikerin nicht, wie das Internet systemisch funktioniert? Und warum hilft ihr da keiner der Berater. Und Herr Rösler, die Presse schreibt auch mit Leistungsschutzrecht nicht besser über die FDP!

Die Bankrotterklärung der Verleger, die hinter der Idee des Leistungsschutzrechtes steht, erfolgt gleich auf mehreren Ebenen. Zum einen haben sie, die das Monopol auf qualitative (und weniger qualitative) Berichterstattung in Deutschland, ja Europa hatten, vor langen Jahren völlig die Idee einer guten Suchmaschine völlig verschlafen. Ausgerechnet die Verlagshäuser, die sich einst für teures Geld riesige Archive und hochqualifiziertes Betreuungspersonal geleistet haben, um wirklich kompetent Artikel schreiben zu können, kamen nicht auf die Idee, dass es in einem noch riesigeren Datenarchiv, wie es das Internet bald geworden ist, sinnvoll wäre, eine kompetente Suche zu erfinden.

Zu selbstherrlich zum Suchen

Selbst nachdem Yahoo mit seinen von Menschen erarbeiteten Datenverzeichnis immens erfolgreich war, kam man in Verlagskreisen nicht auf die Idee, das vorhandene Datenhandling-Knowhow auf das Internet zu übertragen und hier zu reüssieren. Zu vernagelt glaubte man an die Strahlkraft von gedruckten Inhalten – und gönnte sich die Hybris, digitale Inhalte, weil virtuell, nicht ernst zu nehmen. Ich weiß, von was ich hier schreibe, war ich zu der Zeit ja bei Gesprächen mit den meisten großen Verlagshäusern Deutschlands dabei, als es darum ging, Europe Online inhaltlich wie finanziell auf eine breitere Basis zu stellen.

Und das Versagen ging weiter: Als dann die Suchmaschinen, damals in erster Linie Altavista, dann Lycos oder Infoseek, begannen, die ersten nennenswerten Werbeumsätze zu machen, während die Werbeeinnahmen auf den Websites der Verlage (wenn es sie denn damals überhaupt gab), noch mehr als minimal waren, sprangen einige Verleger auf den Zug und kauften sich bei Suchmaschinen ein. Leider bei den falschen, die technologisch zurücklagen, Holtzbrinck etwa bei Infoseek. Die erfolgreichste Suchmaschinen-Neugründung überhaupt wurde dann völlig verschlafen: Google. Das finanzierte sich über Venture Capital und definierte den Markt der Suchmaschinen und Inhalteanbieter – und später dann auch der Anzeigenvermarktung im Internet komplett neu. Natürlich ohne die Zeitungsproduzenten.

Daten als Intelligenz

Google ist so erfolgreich geworden, weil es nicht nur einen genialen Suchalgorithmus entwickelt hat und kontinuierlich optimiert. Es ist so erfolgreich, weil es die geniale Idee hatte, so viele Inhalte wie nur möglich zu digitalisieren und sie gratis ins Netz zu stellen – zur Freude aller User: Bücher, Zeitungsartikel, Landkarten, Fotos, Videos, Blogs. Und es bietet Gratis-Services an wie Mail, Kalender, Office-Software etc. – mit der Prämisse, die dabei entstehenden Inhalte datenmäßig zu erfassen – um so ihre Anzeigenvermarktung besser, intelligenter und umfassender machen zu können. Google hat verstanden, aus digitalen Spuren einen Mehrwert zu schaffen, weil es geschafft wurde, aus den Übermassen an Daten Informationen, Strukturen und Entwicklungen herauszulesen und diese „Intelligenz“ zu Geld zu machen.

Die Artikel, die sie von Websites von Verlagshäusern dafür nutzten, waren dafür nur Mittel zum Zweck. Sie verkauften auf diesen Seiten ja keine Anzeigen, sondern sie machten sich nur schlau, welche Inhalte, welche Schlagworte im jeweiligen Moment von wem nachgesucht wurden. Google machte nie direkt mit den Inhalten Geld, sondern mittelbar. Per Google News und Google Suche wurde massenhaft Traffic auf die Websites von Inhalteanbietern geschickt, gratis versteht sich. Damit optimierte Google sowohl die Suche, vor allem aber die Treffgenauigkeit ihrer Anzeigen – gerne auch auf den Websites von Contentproduzenten.

Daten als Mehrwert

Die bittere Wahrheit auf der anderen Seite des Marktes: Die Inhalteanbieter haben es nie verstanden, aus den Massen an Inhalten und Daten, die sie produzieren und im Kundenkontakt im Internet bekommen, eine ähnliche Intelligenz herauszulesen. Sie haben es nie verstanden (in jeder Bedeutung des Wortes), aus Daten Mehrwert zu generieren. – Man muss ihnen zugute halten, dass sie Inhalte schaffen konnten und keine Softwareschmieden sind. Sie können Texte produzieren lassen, aber keine Algorithmen programmieren (lassen). – Dafür können sie Lobbyarbeit sehr gut. Das beweist die Entscheidung des Bundeskabinetts, den Verlagen zu erlauben, über Verwertungsgesellschaften Geld von Suchmaschinenbetreibern und Contentaggregatoren verlangen zu dürfen, wenn die auf ihre Inhalte verlinken. (!!!)

Spannend, wie Google & Co. reagieren werden. Ist ihnen das Wissen um die Nutzerinteressen und die Nachfrageströme bei aktuellen Inhalten in Echtzeit wert, dafür Geld an die Produzenten zu bezahlen, die selbst unfähig sind, dieses Wissen zu schöpfen und zu vermarkten? Das wäre dann tatsächlich eine Mehrwertsteuer für Datenintelligenz, die Google an die Verleger zahlt. Einen Mehrwert, eine Intelligenz, die Google mit den Inhalten schafft, wohlgemerkt. Naheliegender aber ist, dass Google, wie schon in einem ähnlichen Kontext in Belgien geschehen, einfach auf alle Inhalte von Verlegern verzichtet und die Links zu ihren Inhalten kappt. Dann bekommen diese kein Geld – und spürbar weniger Traffic auf ihre Seiten – und damit noch weniger Werbeeinnahmen.

Wer ist Aggregator?

Wer auf jeden Fall viel Geld verdienen wird, wenn die Pläne des Bundeskabinetts überhaupt je Wirklichkeit werden und in ein Gesetz umgesetzt werden sollten, sind die Rechtsanwälte. Denn es wird dann mehr als strittig sein, wer als Content-Aggregator gilt. Im Interesse von Abmahnanwälten wird die Interpretation sehr rigide gehandhabt werden, weil so mehr Geld zu kassieren ist. Schon heute sind unselige Rechtsanwälte aggressiv im Auftrag der Verlage im Internet unterwegs, und mahnen etwa Künstler und Sänger erfolgreich ab, wenn diese Zeitungs-Kritiken ihrer künstlerischen Leistungen auf ihre Website stellen. (Eintritt werden diese Journalisten wohl kaum gezahlt haben, die Künstler müssen aber für den Abdruck von Zitaten 700 bis 1.400 € zahlen. (Und das sind schon „Kulanzangebote“.)

Rechtsfrieden ade! Es wird rund gehen nach dieser politischen Entscheidung. Der Kampf gegen ACTA wird schärfer werden (müssen). Die Piraten werden noch mehr Zulauf bekommen. Und die Zeitungen werden noch erbitterter gegen das Internet und die bösen sozialen Netzwerke anschreiben. Der Kulturkampf zwischen digital und analog wird wirklich bitter werden. Das Überleben der Print-Verlage mit ihrem überkommenen Content-Verständnis wird auch das Leistungsschutzrecht nicht verhindern, bestenfalls ein wenig hinauszögern.Die Nutzer werden entscheiden. Sie werden gegen gedruckte Produkte votieren. Vor allem die jungen Leser/User.

Und wenn die weg sind, wird die Werbewirtschaft noch weniger in Anzeigen in Print investieren. Das bedeutet finanziell das Aus, Leistungsschutzrecht hin oder her. Ein Blick auf den Einbruch der Anzeigenumsätze in den USA lässt ahnen, was bald auch in Deutschland Fakt sein wird:

Homo post-sapiens


Angst vor der geistigen Entgrenzung

Es gibt seltsame Wochen, da scheint eine (eher unerhebliche) Meldung auf wundervolle Weise mit anderen ein unerwartetes Sinngeflecht zu spinnen. Das ist ähnlich, wie wenn man des Nachts wild durch die Vielfalt digitaler TV-Kanäle zappt und auf kuriose Weise ein Film in einem anderen, einem (oder mehreren) Videos oder sogar Talkrunden eine Spiegelung, Ergänzung oder Kommentierung erfährt. Eine liebenswerte Selbsttäuschung unseres Bewusstseins, wenn es sich auf ein bestimmtes Thema kapriziert, möglichst viel darunter subsummieren zu wollen.

Hans-Joachim Kulenkampff - "Einer wird gewinnen"

Manchmal entsteht aber solch eine thematische Assoziationskette auch in den Medien und den sie kommentierenden Sozialen Netzwerken. Am Anfang stand die Meldung, dass uns Google vergesslicher, wenn nicht dümmer macht, weil sich Studenten, die wussten, dass Fakten in Google gespeichert waren, weniger Informationen merkten als eine Kontrollgruppe, die das nicht wusste, so eine Harvard-Studie. Kein neues Thema, da gibt es schon Bücher zu, aber jetzt war die These endlich wissenschaftlich belegt, so hieß es. Der erste Medienreflex ist dann das übliche Google-Bashing: Spiegel Online titelt: „Internet macht vergesslich“. Zitat: „Unser Gehirn lernt immer mehr, nicht zu lernen.“ Und Google, Bing und Wikipedia sind schuld.

Hätten Sie’s gewusst?

Solch eine Lernste-was-biste-was-Logik erinnert mich an meine Eltern, die mich immer mit dem Argument ermuntert haben, Quiz-Sendungen wie „Hätten Sie’s gewusst“ (Heinz Maegerlein), „Einer wird gewinnen -EWG“ (Hans-Joachim Kulenkampff) oder „Der große Preis“ (Wim Thoelke) anzusehen, man würde dadurch klüger. Wahrscheinlich muss solch Argumentation noch heute herhalten, wenn unbedingt  „Wer wird Millionär“ (Günther Jauch) angesehen wird oder suchtartig Sudoku-Rätsel gelöst werden. Die Wahrheit ist brutal: Auf diese Weise wird man nicht klüger, man belastet sein Hirn nur mit unnützem Spezialwissen. (Und dass durch den Konsum von TV-Sendungen die Hirntätigkeit wirksam gegen Null gefahren wird, das ist auch etliche Male wissenschaftlich nachgewiesen worden.)

Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Google macht uns nicht dümmer, sondern macht unser Hirn frei für Wichtigeres und Effektiveres als das Speichern (heute immer schneller vergänglicher) Fakten. Diese Tatsache hat dann doch auch tatsächlich die taz erkannt und sogar Frank Schirrmacher in FAZ.net hat sie erahnt. Auf den Punkt aber brachte die Diskussion Douglas Coupland (Generation X, Generation A) im Guardian: „Let’s face it, Google isn’t making us stupider, it’s simply making us realise that omniscience is actually slightly boring.“ Google macht nicht dümmer, es hilft uns nur zu kapieren, dass Allwissenheit ein bisschen langweilig ist.

Allwissen tut weh

Wie sehr Allwissen nerven kann, dazu wird in der Augustausgabe des Wired (US) der Technologie-Kritiker Erik Davis zitiert, den es stört, wie im Internet alles bewertet, kommentiert, mit Sternchen zu belohnt wird oder mit Daumen nach oben ge-liket wird : „Our culture is afflicted with knowingness. We exalt in being able to know as much as possible. (…) But we’re forgetting the pleasures of not knowing. (…) We have started replacing actual experience with someone else’s already digested knowledge.“ Unsere Kultur leidet unter notorischer Wisserei. Wir gefallen uns allzu sehr darin so viel wie möglich zu wissen. Aber wir vergessen dabei, wie angenehm es sein kann, etwas nicht zu wissen. – Wir tendieren dazu, echtes Erleben durch das erlebte Wissen anderer zu ersetzen.

Der Autor des Artikels, Chris Colin, beschreibt die Schönheit neuer Entdeckung von Altbekanntem: „It’s a fundamental bit of humaness to discover, say, the Velvet Underground for the first time – to reach at 13 an unbiaased and wholly personal verdict on those strange sounds.“ Es ist fundamental für ein Menschsein, etwa Velvet Underground heute neu zu entdecken, und etwa als 13-jähriger ein völlig neues, unbefangenes Urteil über diese schrägen Sounds zu fällen. –

Erfahrungen ohne Meinungsvorgaben

Genau darum geht es doch, dass immer neue Erfahrungen gemacht werden. Gerade die Generation der Jungen muss ihre eigene Sicht auf Dinge entwickeln, auch auf historische Klänge wie Velvet Underground oder Jimi Hendrix – genauso wie die älteren Generationen Lady Gaga oder Usher zu genießen lernen müssen. Das ist das Wesen der Evolution, dass immer neue Variationen entwickelt werden. Nur so kann Innovation entstehen und nur so kann für die je aktuelle Zeit die richtige Einstellung gefunden werden, können neue, passendere Lösungen gefunden werden – oder wirklich provokante Innovationen. Je kritischer, instabiler und unübersichtlicher die Zeiten werden, desto notwendiger wird eine riesige Bandbreite an möglichen Ideen. Und die entwickelt sich nicht aus Bewertungssystemen und Empfehlungsalgorithmen eines breiten Massengeschmacks.

Einer der größten – und erfolgreichsten Querdenker und kulturellen Innovatoren ist Brian Eno. Er hat nicht nur erfolgreich Musik produziert (Roxy Music, Talking Heads, U2, Coldplay u.v.a.), sondern hat mit seinen Musikexperimenten  immer wieder Neuland betreten, dem dann viele andere folgten. Sein neuestes Album heißt  “Drums Between the Bells” und ist Klang gewordene Poesie und Sprache.

Selbstveränderung und Selbstmodifikation

In einem Interview zum Album formuliert Brian Eno in der New York Times auf wunderschöne Weise eine fundierte, evolutionäre Vision einer positiven Zukunft:  “Something I’ve realized lately, to my shock, is that I am an optimist, in that I think humans are almost infinitely capable of self-change and self-modification, and that we really can build the future that we want if we’re smart about it.” Ich habe für mich entdeckt, und das war ein Schock, dass ich ein Optimist bin. Ich glaube daran, dass Menschen unendlich talentiert sind zur Selbstveränderung und Selbstmodifikation. So können wir wirklich die Zukunft schaffen, die wir uns wünschen, wenn wir es nur schlau anstellen.

Und die Plattform für diese Entwicklung  ist das Internet samt Google, Facebook, Wikipedia – und was noch alles kommen wird. Das Internet macht nicht dumm, nicht vergesslich. Es schafft nur den Platz, indem es Faktengerümpel aus unseren Gehirnen entfernt, für unsere Selbstmodifikationen, unsere Selbstveränderung – als Individuen, als Gesellschaft, als Menschheit. Und am Schluss kommt es auch gar nicht so sehr an, was das Internet mit unserem Gehirn tut. „Look at what these media are doing to our souls.“, zitiert Douglas Coupland Marshall McLuhan: Passt auf, was diese Medien mit euren Seelen machen! Mit den Seelen des Homo post-sapiens.

Digitale Gratiskultur


Tim und Kai-Hinrich Renner: Digital ist besser (Campus Verlag)

Eine spezielle Situation. Ich kenne beide Autoren, den einen (Tim) flüchtig aus meiner Zeit als Musikkritiker, den anderen (Kai-Hinrich) sehr viel besser, weil ich mit ihm beim WIENER zusammengearbeitet habe und ihn dort als energischen Journalisten und als gewitzten und engagierten Menschen zu schätzen gelernt habe. Jetzt kenne ich die beiden aber noch viel besser, weil sie anhand ihrer eigenen Biografie im Hamburg der 70er und 80er ihre Ich-Werdung im Kosmos der Pop-Kultur beschreiben. Und das tun sie in einer ebenso sympathischen wie exemplarischen Weise. Ich bin nun noch ein paar Jahre älter als die beiden, aber meine Ich-Findung fand ebenso in der Pop-Kultur (na ja, auch in der Rock-Kultur) statt wie bei ihnen.

Die Kernthese des angenehm locker geschriebenen Buches (Campus Verlag) ist die: Wer seine Sozialisation in der Pop-Kultur erlebt hat, tut sich mit der digitalen Kultur und ihrer Spontaneität und Fluidität (sehr viel) leichter als alle diejenigen, die den bildungsbürgerlichen Kulturkanon als Leitbild ihres kulturellen – und vor allem ihres medialen – Daseins gewählt haben. Also die gesamte Kaste der etablierten Journalisten und Medienmacher bis hin zu jüngeren Semestern wie Frank Schirrmacher, der seine Digital-Phobie immerhin als Buch-Bestseller vermarkten konnte: „Payback“ (Blessing Verlag).

Sozialisierung durch Alvin Lee & Co.

So sehr meine Eltern es versuchten, mich mittels Oper, Theater, Büchern und Kirche bildungsbürgerlich zu erden, sie konnten gegen die Faszination der Rock- und Pop-Kultur nicht an. Ende der 60er emanzipierte ich mich aus dem elterlichen (klein-)bürgerlichen Kultur-Ghetto mit Hilfe meiner E-Gitarre unter gütiger Mithilfe von Alvin Lee, Tommy Iommi, Peter Green, Rory Gallagher, Jimi Hendrix und Robert Fripp u.a.. In den 70er-Jahren wurde ich zum eifrigen Plattensammler, soweit es karges Taschengeld und bisweilen ansehnliches Honorar aus vielen Jobs (Briefträger, Nachhilfe, Schreiben) zuließen. Die 80er Jahre über bis Mitte der 90er-Jahre kamen die Platten – und später CDs – frei Haus, weil ich in der Münchner Stadtzeitung und dann beim WIENER kontinuierlich und viel über Musik (Platten, Konzerte) schrieb und reihenweise Pop-, Rock und Filmstars interviewte.

Und dann, als ich beim WIENER kündigte und nach Hamburg zu Scholz & Friends als Trendforscher und Zukunftsberater ging, war schon das Internet da, zunächst als seltsames Schlupfloch bei Compuserve. (Danke Anatol, dass du mich damals erstmals in diese fremde, neue Welt, die damals noch sehr grau war und keine Bilder kannte, mitgenommen hast!) Bald danach hatte ich sehr zu kämpfen, dass die Kunden den Trend Internet a) verstanden und b) seine Perspektiven wenigstens zu erahnen bereit waren. So wurde ich zu einem der ersten „Experten“ in diesem Thema hierzulande.

Mitschuld an Gratiskultur

Ab dann durfte ich die digitale Kultur aus operativer Sicht kennen lernen, verstehen lernen – und sie aktiv mitgestalten. Zuerst bei Europe Online, dann bei Sidewalk von Microsoft und dann bei MSN (Microsoft Network), wo ich das erste deutsche Portal gestalten durfte. Ich war damals aktiv mit schuld daran, dass die Gratis-Kultur des Internets in Deutschland entstand, die Kai-Hinrich Renner nicht müde wird in „Digital ist besser“ zu beklagen.

Europe Online wollte zunächst wie America Online für alle Inhalte Abonnement-Gebühren verlangen. Als dann aber die proprietäre Software nicht funktionierte und wir auf das HTML-Format (Netscape 2.0) wechselten, war bald klar, dass die Inhalte zum Großteil gratis sein sollten. Damals wurde schon ein ähnliches Modell diskutiert, das jetzt die New York Times einzuführen versucht. Bei uns hieß das das „Zwiebel-Modell“: Viele Inhalte sollten gratis sein und die User locken. Genau das macht die NYT jetzt auch, 10 Seitenabrufe sind gratis, danach muss man sich registrieren – und alle Links von Google, Facebook oder Twitter sind auch stets kostenfrei. Danach fällt die Zahlschranke – und um die mühsame Einzelabrechnung gelesener Inhalte einfacher zu machen, werden attraktive Abonnements (für Print plus Online, iPads oder Online only) angeboten.

Technisches Manko

Genauso war es mal für Europe Online angedacht. Leider war damals keine technische Lösung für solch ein Modell zu entwickeln. Wie auch? Das war noch bevor Content Management Systeme (CMS) entwickelt waren. Also wurden alle Inhalte gratis ins Netz gestellt. So wie es der Spiegel und Focus bald danach machten. Das geschah als Vorsichtsmaßnahme, damit nicht etwa irgendwelche Garagenfirmen den Verlagen die Leser abspenstig machen würden. Das war damals die höchste Angst der Verleger.

Die Garagenfirmen schlugen dann aber ganz wo anders zu. Weil die Verleger es verabsäumten, in ihren Häusern eigenes digitales und technisches Know how aufzubauen, entstanden aus „Garagen“ heraus technikgetriebene Firmen wie Scout24, wie Mobile, wie Parship oder StepStone, die den Verlagen – ohne großen Widerstand – alle Rubriken-, Kontakt- und Jobanzeigen abspenstig machten – und so den Anfang der wirtschaftlichen Talfahrt initiierten. Diese Gratiskultur war den Verlagen damals nicht geheuer. Damals hätte ihnen gesunder Kannibalismus und weniger Angst vor neuen digitalen Geschäftsmodellen gut getan. Die sind, zugegeben, komplexer und scheinbar weniger ergiebig. Aber wie eine andere Garagenfirma bewiesen hat, kann derjenige, der die digitale Technik und die digitale Kultur versteht, durchaus damit sehr viel Geld verdienen: Google beweist das tagtäglich.

Keine Angst vor der Digitalität

Das ist dann auch die spezielle Stärke von „Digital ist besser“: Es widerlegt elegant alle Angst- und Horror-Szenarien zur digitalen Kultur. Das Buch macht Mut und Lust, sich auf das Internet, die digitale Kultur (samt Games) – und auch auf Social Media – einzulassen. Das tut es vor allem auch, weil es kein abstraktes Traktat ist, sondern weil man so viel über die beiden Autoren und ihren Weg  via Popkultur in die digitale Kultur erfährt.

Mein lieber Schwede


Was, wenn uns unser Nachbar zu gut kennt?

Die Welt lacht. Wenn sie wohl gesonnen ist, dann schmunzelt sie nur. Sie amüsiert sich über die g’schleckerten Deutschen, die ihre Hausfassaden nicht in Google Street View verewigt sehen wollen. Lieber lassen sie sich einen Pixel-Grauschleier vors Mauerwerk stellen, das sie in einer sonderbaren Ausweitung ihres Narzissmus als Teil ihrer Persönlichkeit verstehen.

Stockholm in 3-D von hitta.se

Ein seltsames Phänomen, dass jetzt teilweise wunderschöne Altstadt-Fassaden, aufwändig renoviert, in aller Hässlichkeit versteckt werden. Für viel Geld mit all den Simsen und Erkern, mit Stuckwerk und vielleicht noch Malerei verschönert, waren sie einst der Stolz ihrer Bauherren und Besitzer. Sie investierten viel Geld, um sich mit dem Haus nach außen darzustellen – und dabei auch für ein schönes Stadtbild zu sorgen.

Jetzt geht es genau anders herum. Jetzt wird alles sorgsam verschleiert, ohne Rücksicht darauf, wie sehr so das virtuelle Straßenbild bei Google Street View verschandelt wird. Jeff Jarvis nennt uns neuerdings nur noch „Blur-mans“, frei übersetzt: Schleiermänner. Eine seltsame Spezies, die sich zickt und ziert, die eigene Fassade zu zeigen. Ein implodierendes Balzverhalten, eine seltsame Bilderstürmerei gegen die höchsteigene Heimat.

Protest gegen alles Digitale

Mir kann keiner erzählen, dass die Verpixelung schöner Hausfassaden mitten in München Schwabing dem Schutz vor Dieben dienen mag. Der Protest gegen Google ist zum einen ein regressiver Protestakt gegen alles Digitale – und die von ihm verursachte Komplexität der Neuen Welt – und die damit verbundene Ohnmacht dem Digitalen gegenüber. Und wenn man sonst gegen nichts zu protestieren hat, dann halt gegen Google. Ausgerechnet am völlig falschen Produkt des Hauses!

Wie es der Zufall will, lerne ich die Tage einen neuen Kollegen kennen, ein Schwede. Auch er lächelt milde über unsere Agoraphotophobie. Er versteht die Aufregung nicht so richtig. In Schweden, speziell Stockholm, kennt man solche Straßen-Fotoservices längst. Die einheimische Firma „hitta.se“ zeigt seit 2008 Stockholm in einer dem Street View ähnlichen Art. Zusätzlich bietet der Straßenservice noch ein fotorealistisches 3-D-Modell der Stadt an, natürlich inklusive sämtlicher Hausfassaden.

Stolz auf Stockholm

Als hitta.se damals durch die Straßen Stockholms fuhr und die Stadt fotografisch erfasste, wurde dieses Projekt von der ansässigen Presse sehr positiv begleitet und das digitale Produkt dann gut promotet. Es machte die Stockholmer ein Stück stolzer auf ihre Stadt – und besser zurecht finden kann man sich dort seitdem auch. Und von einem Anstieg der Diebstähle ist auch nichts bekannt.

Gatubild von hitta.se, das Schwedische Streetview

Die Akzeptanz in Schweden muss auch nicht verwundern. Hier geht man seit je her extrem relaxt mit privaten Daten um. Erzählt mein Kollege: „Jeder kann jederzeit sehen, wer wo wohnt, wann er geboren ist, alles samt Foto des Hauses, in dem er wohnt. Das ist bei uns so.“ Ach, ja, scherze ich, und das Einkommen weiß man dann auch. „Na ja, das kostet – umgerechnet – einen Euro, dann bekommt man die Information auch.“

So ist das in Schweden. Hier gibt es keine – digitalen – Gardinen. Hier weiß jeder vieles vom anderen. Und das stört nicht, sondern wird als Qualität gesehen. Man versteht sich als großes Dorf, in dem man aufeinander achtet. Und das geht nur, wenn man auch genug übereinander weiß. – Eine Horrorvorstellung für uns Deutschen.

Die Enge des Dorfes

Ich bin eigentlich in der Stadt aufgewachsen, in München. Aber Berg am Laim, der Vorort im Osten war damals in den 60er-Jahren noch wirklich dörflich geprägt, mit Weizenfeldern, Dorfgaststätte, funktionierenden Vereinsstrukturen. Kurios nur, dass in den Dorfkern eine Straßenbahn fuhr – und dort kehrt machte.

Wenn wir – natürlich mit der Tram – zum Einkaufen fuhren oder ich in die Schule, dann hieß das: „Ich gehe in die Stadt.“ Die Stadt, die begann dann aber schon knapp zwei Kilometer später nach der Unterführung am Ostbahnhof. Für uns Kinder eine kleine Weltreise, denn dort begann die große weite Welt.

Ich hatte dann auch nichts Dringenderes zu tun nach dem Erreichen der Volljährigkeit (das war damals noch mit 21!), in die Stadt zu ziehen, nach Haidhausen – gute zweieinhalb Kilometer entfernt von meinem Elternhaus. Hier erst fühlte ich mich frei. Hier kannte mich nicht jeder, hatte sich noch kein „Bild von mir gemacht“. Hier gab es die Anonymität, nach der ich mich so sehr gesehnt hatte.

Das globale Dorf

Jetzt, ein paar Jahrzehnte später geht die Volte wieder zurück. Peu à peu entwinde ich mich der Anonymität und werde zum Citizen eines globalen Dorfes. Immer mehr Menschen erfahren immer mehr über mich, auch Persönliches. In meinem Blog, auf Twitter, via Facebook. Und ich lerne dieses zunehmend gläserne Leben zu genießen.

Treffe ich die Menschen, mit denen ich etwa auf Facebook verbunden bin ganz real, stelle ich fest, dass zwischen uns eine ganz neue Vertrautheit herrscht. Die Gespräche werden besser, tiefer, persönlicher. Der ganze Alltags-Tand und Gesellschafts-Smalltalk, der sonst solche Gespräche prägt, fällt weg. Man weiß „zu viel“ übereinander, um noch Belanglosigkeiten austauschen zu können – und zu wollen.

Das trifft dann sogar für die eigenen Familienmitglieder zu. Man erfährt so viel Neues, Persönliches, aber auch Alltägliches voneinander, dass man sich auf das nächste Familientreffen freut, weil die Gespräche besser sind – und man sich so viel näher ist.

Willkommen im globalen Dorf, lieber Michael! Mir gefällt es hier. Und mir tun die Menschen eigentlich leid, die sich bemüßigt fühlen, sich und ihr Leben mit hässlichen Pixelvorhängen verbergen zu müssen. Die sind die neuen Kleinhäusler, vor denen ich einst in die „große“ Stadt geflohen bin. Jetzt finde ich diese ausgerechnet dort wieder. (Keine Frage, mehr als genug von ihnen sind in den Vorstädten geblieben und lassen dort ihre popeligen Bausparvillen verpixeln.)

Irgendwie erinnert mich das an Kinder, die die Hände vor die Augen pressen und erleichtert seufzen: „Keiner sieht mich! Ich bin gar nicht da!“

Mach mich nicht nass!


Des Nichtschwimmers Argumente

Es ist ein wenig so, wie wenn ein überzeugter Nichtschwimmer am Rande eines Schwimmbeckens an die sich dort fröhlich vergnügende Schwimmergemeinde predigt und vor den Gefahren des Badens im Seichten und Tiefen warnt. Baden ist gefährlich. Wenn man nass ist, kann man sich erkälten. Man kann aus Versehen Wasser schlucken. Das kann von Menschen mit wenig Hemmungen auch ein wenig verunreinigt sein. Bei Springen vom Turm oder auf Wasserrutschen kann man sich blaue Flecken holen. Und ja, man kann sogar ertrinken dabei. Und Schwimmbadbesitzer machen mit dem Ganzen sogar Geld.

Alle diese Argumente stimmen ja. Ohne Frage. Und trotzdem hören die Menschen nicht auf, baden zu gehen. Selbst solche, die noch nicht mal zu schwimmen gelernt haben. (Dann wird es sogar richtig gefährlich.) Es macht ihnen sichtlich Spaß. Und die Risiken, die schlagen sie in den Wind.

Selber schuld

An diese Allegorie erinnern die meisten der Stimmen, die enthusiastisch bis hysterisch vor den Abgründen und Gefahren der Social Networks, vorzugsweise Facebook und Twitter warnen. Thilo Weichert etwa, der Datenschutzbeauftragte von Schleswig-Holstein, ließ sich auf der „Netzpolitischen Soiree“ der Grünen, am 10. September 2010 in Berlin zu einer Philippika gegen Google und alle Sozialen Netzwerke hinreißen, die Jeff Jarvis, der ebenfalls Gast dieser Veranstaltung war, bissig unter dem Titel „Oh, those Germans“ in seinem Blog buzzmachine.com dokumentierte und kommentierte.

Höhepunkt der fachlichen Selbstdemontage von Thilo Weichert war der Satz: „Solange die Deutschen so dumm sind, dass sie diese Suchmaschine (Google!) nutzen, haben sie es nicht besser verdient.“ Die Begründung: „Google nutzt seine Daten um mich zu manipulieren.“ (???) Wer so ideologieverbohrt argumentiert hat weder die digitale Welt noch den dort nötigen Datenschutz verstanden. Und wie am Nichtschwimmerbeispiel gezeigt: von außen lässt sich am besten irren.

6 mal gegen Facebook

Noch typischer ist diesen Irrweg ausgerechnet der Chefredakteur des britischen WIRED, David Rowan, gegangen. Er hat ganz stolz zum Besten gegeben, warum er nicht in Facebook ist – und je zu sein gedenkt. Sechs Gründe gibt er an, größtenteils die üblichen, wenn es um Facebook-Bashing geht:
1. Facebook ist eine Privatfirma – und die führt per se nichts Gutes im Schilde, sondern nur Kommerz (Thilo Weichert lässt grüßen).
2.  Facebook macht es schwer, sich immer wieder neu zu erfinden.
3. Private Daten können missbraucht werden…
4.  … und zwar gegen einen persönlich.
5.  Wenn man sich daneben benimmt, bleibt das für immer gespeichert.
6.  Sozialer Diskurs wird kommerzialisiert.

Solche Argumente kommen sichtlich von außen. Ähnlich wie bei der Allegorie des Nichtschwimmers am Anfang sind sie nicht per se falsch. Nur treffen sie nicht den Kern der Sache. Es sind die Argumente eines Menschen, der sich auf etwas Neues nicht einlassen will und etwas verkrampft rationale Gründe für seine Haltung sucht. Natürlich ist es nicht verkehrt, auf Risiken und Nebenwirkungen hinzuweisen. Aber das alles ist keine sinnvolle Argumentation, bei Facebook & Co. nicht mitzumachen.

Richtig ist, dass die Vorteile der Sozialen Netzwerke sofort und in vollem Umfang zu genießen sind. Deswegen ist die Facebook-Gemeinde in aberwitzig kurzer Zeit auf eine halbe Milliarde Menschen angewachsen. Mögliche Nachteile oder Probleme sind garantiert erst sehr viel später zu erleben. Diese Asymmetrie ist typisch für digitale Errungenschaften. Aber gerade der Erfolg in dieser Dimension schützt zugleich vor exorbitantem Missbrauch. Die Konsumentenmacht ist viel zu groß, um missbraucht werden zu können.

Leben als Betriebssystem

Besonders entlarvend für die Denkweise von David Rowan ist sein zweiter Ablehnungsgrund. Facebook mache es schwerer, sich neu zu erfinden. Hier zeigt sich, dass Rowan eine sehr antiquierte Lebensidee hat, man könnte es glatt solitär nennen: Man lebt (ungeniert?) sein Leben und wenn es nicht mehr klappt oder man sich zu sehr daneben benommen hat, fängt man halt neu ganz von vorne an.

Das erinnert an den Umgang mit Windows-PCs, die man halt im Notfall wieder neu hochfährt, aber so etwas hat nichts mit dem Leben zu tun, das man heute zu leben genießt. Ich bin jedenfalls um jede Anregung, um jede Idee, um jede Alternative froh, um jedes neue Argument, auch um jede Meinung, die mir konträr entgegen steht, die mich in meinem täglich gelebten Leben weiter bringt. Und immer mehr dieser Anregungen/Ideen/etc. kommen von meiner „Netzwerkfamilie“ bei Facebook oder meinem „Inspirationskreis“ bei Twitter.

Das Leben ist kein Betriebssystem, das wenn es nicht funktioniert, neu gestartet werden kann. Ein Leben ist ein Prozess. Und je spannender, je abwechslungsreicher und befruchtender dieser ist, um so besser. Wenn ich zurück schaue, dann lebe ich heute ein völlig anderes Leben als vor 10, als vor 20 oder 30 Jahren. Aber das, ohne je einen kompletten Neuanfang gemacht zu haben. Sondern als spannenden Prozess mit allen Höhen und Tiefen.

Kein Leben, das ich glücklicherweise nie vom Beckenrand aus beobachtet oder kommentiert habe, sondern wo ich mitten drin war. Mit allen Risiken, sich nass zu machen, Wasser zu schlucken und auch mal Angst zu haben, zu ertrinken. – Fragt sich, wie sich wohl ein Leben vom Beckenrand aus lebt, Mr. Rowan? Ich jedenfalls möchte nicht nur dort stehen und zuschauen – und „schlaue“ Kommentare abgeben.

Ist der Ruf erst ruiniert…


Aggressive Feindbilder und düstere Prognosen

Die ZEIT titelt: „Feindbild Google“. Der STERN unkt: „Big Brother Google“. Und den Vogel schießt Chris Anderson in Wired ab: „The Web is dead!“ (Immerhin geht der Satz weiter: „Long Live the Internet.“) Das  Internet und ganz speziell der Suchgigant Google stehen unter Beschuss. Und keine Angst, bald wird auch wieder Facebook gebasht werden. Facebook Places, dessen neuer Location Service, wird garantiert dafür sorgen. Vor allem wenn er erfolgreich ist.

Es scheint so, als würden alle Ängste, alle Sorgen, alle Hassgefühle gegen das Internet sich Bahn brechen. Schon lang waren das Internet und seine führenden Protagonisten (und finanzielle Nutznießer) so in der Kritik. Und noch selten mit solch kuriosen Argumenten und solch kreischendem Unwissen wie in der Debatte um Google StreetView. – Wer bitte sonnt sich nackt zur Straßenseite hin genau in dem Moment, wenn alle drei bis fünf Jahre der Google-Fotowagen vorbei fährt? Aber so etwas ängstigt etwa Jeanette Biedermann.

An dieser Stelle könnte man sich fürchterlich aufregen. Vorzugsweise über die Kollegen auf der Printseite, die nun völlig ungeniert Ängste schüren, um die Konkurrenz madig zu machen. Oder auch über die Ignoranz von Politikern, die in dem Thema Profilierungspotential sehen. Man könnte aber auch beiläufig mit den Schultern zucken nach dem Motto: Was kümmert’s die Eiche, wenn eine Sau sich dran kratzt?

Aber es gibt auch noch eine dritte Option. Man freut sich ein Loch in den Bauch, dass das Internet dabei ist, endlich in der Mitte der Gesellschaft anzukommen. Die Aggression findet inzwischen auf einem solch enttechnologisierten, tumbe Ängste triggernden Niveau statt. Das zeigt, wie sehr das Internet dabei ist, nun endlich zur Selbstverständlichkeit wird.

Das Auf und Ab des Hype Cycle

Die Beratungsgesellschaft Gartner hat einst den berühmten (und berüchtigten) Hype-Cycle entwickelt. Er beschreibt das übliche Schicksal neuer Technologien in Medien und Gesellschaft.
1. Am Anfang steht der Technology Trigger. Neue Ideen, Produkte und Erfindungen werden bestaunt und euphorisch beschrieben.
2. Immer mehr Medien nehmen das Thema, wenn es vielversprechend, also hype-fähig ist, auf und entwickeln immer phatasievollere, immer phantastischere Optionen, was damit alles zu machen ist. Das geht steil empor bis zum Peak of Inflated Expectation.
3.  Irgendwann, wenn die Erwartungen ins Absurde abkippen und der Gedanke ausgereizt ist, weicht die Euphorie, es wird die Nase gerümpft und alles wird niedergeschrieben. Bis hinunter ins Tal der Desillusion, den Trough of Disillusionment, wo das Thema dann (vermeintlich) durch ist.
4. Jetzt erst ist der Weg frei für eine ernsthafte Beschäftigung mit dieser neuen Idee, Technologie oder diesem Produkt. Jetzt kommen die ersten ernsthaften und realistischen Einschätzungen. Es geht nun wieder aufwärts im Imagewert – und der Börsenbewertung. Das ist der Slope of Enlightment.
5. Und erst jetzt, nachdem es von „himmelhochjauchzend“ über „zu Tode betrübt“ gegangen ist, pendelt sich ein neues Thema auf einem realistischen Level ein – und nun erst kann Idee/Technologie/Produkt sein volles Potential ausspielen – auf dem Plateau of Productivity.

Jenseits des Hype-Cycle

Das Internet ist da aber schon längst raus, den Hype-Cycle hat es spätestens zur Jahrtausendwende hinter sich gelassen. Jetzt geht es um die breite gesellschaftliche Akzeptanz. Und da macht sich das Internet nicht nur daran, ein neues Medium, vielleicht sogar ein Leitmedium zu werden. Nein, es ist dabei, die generelle Plattform für alle (digitale) Kommunikation zu werden. Daher auch die so vehementen Angriffe all derer, die bisher die Bedeutungsmacht über die Medien hatten (oder es zu haben meinten): die Verlagshäuser und TV-Sender – und die Politiker.

Nein, das Internet macht sich wirklich daran, im Zentrum all unserer Kommunikation zu stehen. Es verändert die Machtstrukturen in der Gesellschaft. Und das heißt, jeder Mensch, der in Zukunft in der Gesellschaft aktiv sein will, muss sich mit dem Internet auseinandersetzen – und die Mehrheit der im analogen Zeitalter Aufgewachsenen muss viel dazu lernen.

Vor allem geht es darum, die Vor- und Nachteile besser einschätzen zu lernen. Denn jetzt rächt sich, dass gerade die Social Media Vor- und Nachteile so asymmetrisch verteilen. Die Vorteile, also sofortige Verbindung, Nähe oder Vertrautheit, werden mit einer ganz neuen Datensammel-Kultur erkauft. Deren negative Auswirkungen erlebt man, wenn überhaupt, erst sehr, sehr viel später. Aus dieser Asymmetrie erklärt sich vielleicht der kuriose Vorschlag von Google-CEO Eric Schmidt, dass man einen neuen Namen erhalten sollte, wenn sich genug belastendes Material im Internet, oder genauer: in den Google-Datenbanken, angesammelt hat.

Ein ebenso ungelenker wie absurder Vorschlag. Schließlich sind Namen im Internet sowieso egal. Die Bedrohung ist das Raster aus erfassten Daten, das wie ein Fingerabdruck unzweifelhaft einer bestimmten Person zugeordnet werden kann. Eric Schmidts Vorschlag ist insofern ein wenig unheimlich, als dass man bisher davon ausgehen konnte, dass bei aller Sammelwut von Google damit technisch noch nicht viel angefangen werden kann – und dass Datenmuster schon gar nicht gegen jemanden verwendt werden konnten, weil sonst der Ruf von Google unheilbar für immer ruiniert wäre. Personalisierte Werbung in Ehren, die Bedrohung durch Datenkraken geht viel weiter, vor allem, wenn sie nicht demokratisch kontrolliert werden.

White Noise

„Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich gänzlich ungeniert.“ Das ist jetzt der Prozess, den das Internet durchmachen muss. Alle überhöhten Erwartungen müssen geschliffen werden, aber genauso alle Vorteile endlich realistisch genutzt werden. Und dasselbe gilt auch für uns. Auch für uns könnte der Sinnspruch mit dem ungenierten Leben mit ruiniertem Ruf gelten.

Mir schwebte schon seit je her die Idee vor Augen, allzu große Neugier der Datensammler durch „White Noise“, ein undurchschaubares, nicht ausrechenbares, widersprüchliches Gewirr aus (fiktiven) persönlichen Daten, auszubremsen. Vorzugsweise sollten das intelligente Bots für mich machen: einen kuriosen Mix aus tiefer Papstverehrung und Porno-Nutzung, Schmetterlings-Sammeln und abstrakter Kunst, Bach-Etüden und Motörhead usw. usw. usw.

Ich gebe zu, ein ziemlich schwieriges Unterfangen, solchen White Noise wirkungsvoll zu programmieren. Denn wir hybriden Konsumenten schaffen sowieso schon viel zu viele absurde Widersprüche in unserem Konsumverhalten. Ich wüsste zu gerne, ob Google daraus wirklich sinnvoll verwendbare Strukturen herausinterpretieren kann.

Verklärte Erinnerungen

Mich tröstet bislang, dass ich auf meinem Gmail-Account noch immer ein Familienhotel bei mir um die Ecke in Erding angeboten bekomme. Sehr absurd, denn genau dort brauche ich ein Hotelzimmer am wenigsten. Schließlich habe ich dort ein sehr bequemes Bett und alle Annehmlichkeiten unseres netten Zuhauses. Solange das Wissen über mich nur so weit geht, dass ich in der Nähe von Erding wohne, bin ich zutiefst beruhigt. Ich muss also keinesfalls in absehbarer Zeit meinen Namen ändern. Vor allem wegen der Gnade der frühen Geburt. Zu meinen wilden Zeiten gab es kein Internet. Ja nicht mal digitale Kameras. Und alle Belastungszeugen von damals sind seltsam milde geworden, was ihre Erinnerungen angeht.

Die Verklärung und Verdrängung, die unser Gehirn so gut beherrscht, das müssen Google, Facebook & Co. noch unbedingt lernen…