Die Herausgeber


Der Herausgeber als Mut-Garant

Seit dem Tod von Frank Schirrmacher ist dank der vielen intensiven Nachrufe der Beruf des Herausgebers wieder in den Vordergrund gerückt. An diesem Beispiel wurde ein mal mehr deutlich, wie wichtig ein Herausgeber sein kann, wenn er seine Aufgabe ernst nimmt und das nötige Format dazu hat.

Ich bin ja selber Herausgeber – des Multimedia Annuals des Walhalla Verlags. Das ist ein echtes Vergnügen – und auch Arbeit. Themen für die Artikel im Buch wollen gefunden werden und Autoren dazu. Das Konzept will weiter entwickelt werden, Marketingideen müssen immer neu geboren werden. Die Jury gilt es auszuwählen – und dann die Jurysitzung vorzubereiten und zu leiten. Herausgeber eines Buches zu sein, braucht vielleicht ein paar gute Ideen, ein paar Verbindungen und ein inhaltliches Konzept. Das finanzielle Risiko aber trägt in diesem Fall der Verleger (publisher).

Arno Hess - Verleger der Münchner Stadtzeitung  Foto: Dorin Popa
Arno Hess – Verleger der Münchner Stadtzeitung
Foto: Dorin Popa

Dieser Beruf des Herausgebers (publisher!) scheint mir im digitalen Raum viel zu kurz zu kommen. Er ist es, der die Leitlinien eines Mediums bestimmt, der die inhaltliche Ausrichtung mitbestimmt – und vor allem auch finanziell und rechtlich vor dem Verlag bzw. Verleger vertritt. Er ist es, der einer Redaktion vorgibt, wie mutig sie sein darf – oder wie liebedienerisch sie sein muss. Er bestimmt, wie konfrontativ ein Medium sein darf – samt möglichen rechtlichen Auseinandersetzungen – oder wie weichgespült es sein muss. Er justiert die Nähe zu Anzeigenkunden oder definiert die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Geldquellen.

Der renitente Verleger

Meine eigenen Erfahrungen mit Herausgebern sind begrenzt. Bei der Münchner Stadtzeitung hatte ich mich mit meinen Ideen und meinem Budget mit dem Verleger und Gründer Arno Hess auseinanderzusetzen. Er war, ohne sich je so explizit zu nennen, auch Herausgeber. Wurde es mal eng, sei es weil gegen Artikel geklagt wurde oder ein Anzeigenkunde sich nicht fair behandelt sah, kam bei Arno Hess immer ein sehr angenehmer Wesenszug zum Zug: Er war extrem freiheitsliebend, und jeder, der diese Freiheit einengen wollte, hatte bei ihm schlechte Karten. Sehr schlechte Karten.

Egal, was passierte, ich fühlte mich damals bei meiner Arbeit als verantwortlicher Redakteur immer unterstützt, immer sicher. Je schräger und besser die Ideen der Redaktion waren, desto mehr blühte Arno Hess in seiner Rolle als Herausgeber auf. Und wenn es galt, noch ein wenig Geld für schräge Ideen wie Brettspiele auf dem Titel, Rabattaktionen oder Aufkleber etc. zu akquirieren, schickte Verleger Arno Hess den Anzeigenaquisiteur Arno Hess auf die Straße und ans Telefon. Und wenn die Münchner Tagespresse solche Ideen dann per einstweiliger Verfügung zu stoppen versuchte, bereinigte Herausgeber Arno Hess die Situation klaglos – oft auch lautlos.

Rückhalt für Recherchen im Randbereich

Beim WIENER war die Situation brisanter. Viele Recherchen waren investigativ, und  da agierte man als Reporter oft in einem rechtlichen Graubereich. Bei vielen Geschichten wussten wir, dass rechtliche Auseinandersetzungen kommen könnten. Der einzige Schutz dagegen war der Erfolg der Geschichte – bei den Lesern und den Kollegen der anderen Presse. Wurdenwir dort zitiert, wagte kaum einer der Betroffenen, gegen die Geschichte zu klagen. Zu groß wäre das Medienecho gewesen – und zu negativ. (Und tatsächlich wurde ich für eine Geschichte, die nicht funktioniert hatte, verklagt und verurteilt. Wegen übler Nachrede und Gründung einer Scheinfirma, die als Homebase für eine investigative Geschichte dienen sollte.)

Beim WIENER habe ich exemplarisch erlebt, wie ein Herausgeber einem Chefredakteur den Rücken stärkt. In rechtlichen Auseinandersetzungen und in wirtschaftlichen Krisenzeiten. Das war zuerst Hans Schmidt als Geldgeber und Verleger des Deutschen WIENER, den er aus Verärgerung darüber gegründet hatte, dass der Jahreszeitenverlag, mit dem er den WIENER nach Deutschland bringen wollte, hinter seinem Rücken seinen Chefredakteur Markus Peichl und seinen Artdirektor Lo Breier abgeworben hatte und ohne ihn TEMPO als Zeitgeistmagazin in Deutschland lancierte hatte.

Provokation als Pflicht

Der Herausgeber war hier nie Bremser, sondern im Gegenteil Antreiber. Er ging alle denkbaren Risiken ein, rechtlich und wirtschaftlich. Aber auch als der WIENER vom Bauer Verlag gekauft wurde, wurde der Rückhalt für die Redaktion nicht geringer. Rechtlich war der Verlag durch die lange Tradition der „Quick“ in Rechtsstreitigkeiten erprobt. Man schien sogar geradezu Spaß daran zu haben, immer mal „wider den Stachel zu löcken“.

Solche Erfahrungen prägten mein Bild, wie ein Herausgeber zu sein hat – und was er einer Redaktion geben kann. Ich habe keinen Weltenerklärer wie Helmut Schmidt bei der „Zeit“ erlebt. Keinen Journalistenmythos wie Augstein beim Spiegel. Keinen intellektuellen Antreiber wie Frank Schirrmacher.  Ich habe nur Menschen erlebt, die mir und meinen Kollegen ermöglicht haben, die Grenzen des Journalismus auszuloten und Recherchen zu wagen, die auch mal Neuland betraten. Das gelang bisweilen sehr gut, manchmal sind wir übers Ziel hinausgeschossen und – ganz selten – provozierten wir eher aus Selbstzweck. Da war es gut, eine Instanz zu haben, die nicht ins Tagesgeschäft verwickelt war und von außerhalb des Redaktions-Bubbles Feedback gab.

Plattform ohne Sinn & Zweck

Fragt sich, wie heute im Zeichen völlig veränderter Produktionsprozesse in den Medien diese Funktion erfüllt wird. Eine Arianna Huffington tut das bei ihrem Onlineportal. Sie hat ihre Freunde – darunter viele Prominente gebeten – für sie zu schreiben. Unentgeltlich. Als Gegenleistung bot sie in den USA eine Plattform – die Huffington Post -, die andere Zielgruppen im Internet erreichte und die politisch offen und unabhängig war. Keine Selbstverständlichkeit in den USA. So schaffte sie es, die HuffPo zu einer wichtigen liberalen Stimme in den USA zu machen und wirtschaftlich erfolgreich zu sein. (Natürlich auch dank der vielen gratis zuliefernden Autoren.)

Wie man in Deutschland auf die Idee kommen kann, einen Cherno Jobatey zum Herausgeber der deutschen Ausgabe der Huffington Post zu machen, ist dann schon sehr kurios. Man kann von diesem TV-Moderator halten was man will, aber als Kämpfer für redaktionelle, rechtliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit ist er nicht recht vorstellbar. Hier wurde die Position des Herausgebers für PR-Zwecke missbraucht. Und das in einem Verlagshaus, das sehr genau weiß, wie wichtig gute Herausgeber sind: Burda.

Herausgeber für Corporate Content

Wie schwer es ist, qualitative Inhalte zu produzieren ohne die schützende oder fördernde Hand eines Herausgebers, durfte ich ein ums andere Mal bei unterschiedlichsten Firmen erleben. Da werden gerne ambitionierte Content-Projekte entwickelt – und so lange dieses Projekt ganz oben vom Vorstand gut geheißen und vielleicht auch noch inhaltlich begleitet wurde, konnten sogar im kommerziellen Umfeld gute, ja sogar mutige Inhalte umgesetzt werden. Hier fungierte der Vorstand (oder zumindest einer seiner Mitglieder) als Herausgeber. Das motiviert dann auch die damit befassten Manager. Denn so kann man ja Punkte beim Vorstand gut machen.

Aber das ist meist nur eine Optimalsituation auf Zeit. Irgendwann hat der Vorstand ein anderes wichtiges Thema zu verfolgen und gibt die Verantwortung ab, stets mindestens eine Entscheidungsebene weiter nach unten. Hier beginnt dann schon bald eine qualitative Nivellierung. Die Manager der zweiten und dritten Ebene haben nicht das Standing – und auch nicht den Mut -, sich für eine Publikation Probleme einzuhandeln. Hinzu kommt, dass Manager im Mittelmanagement mit der Aufgabe eines „Herausgebers“ völlig überfordert sind. Und sie können in dieser Situation karrieremäßig wenig gewinnen, aber viel verlieren, etwa wenn ein Shitstorm über die Firma niedergeht.

Der CCO – Chief Communication Officer

Also versuchen die Manager, die Verantwortung für schwierige Content-Projekte möglichst schnell weiter zu delegieren. Natürlich wieder ein, zwei Hierarchiestufen nach unten. Und das verschärft das Dilemma nur noch weiter. Kompetenz, Interesse und Mut sind hier noch weniger verbreitet. Spätestens hier regierten dann nur noch Mutlosigkeit und Beliebigkeit. Und schnell ist der Punkt erreicht, wo solche Projekte schließlich mangels Erfolg eingestellt werden. Schuld sind natürlich die verantwortlichen Redaktionen und Agenturen, nie die Firma selbst.

Corporate Content wird für große Firmen aber immer wichtiger. Nur damit wird man sich in einer Daten- und Content-Gesellschaft noch wirkungsvoll profilieren können. Will man aber nicht ein ums andere Mal mit Content-Projekten, ob Blogs, (Web-)Magazinen, Social Media oder anderen (digitalen) Veröffentlichungen, scheitern, muss dafür gesorgt werden, dass die Verantwortung und das aktuelle Handling in die Hand eines Managers gelegt werden, der möglichst hoch in der Hierarchie des Unternehmens angesiedelt ist, möglichst direkt im Vorstand. Dieser „Herausgeber“ – oder nennen wir ihn CCO, Chief Communication Officer, ist die logische Konsequenz einer Wirtschaft, die immer mehr durch die Effekte von Publikationen, von Corporate Content bestimmt ist. Und je besser der CCO, desto besser – und mutiger – die Publikationsqualität und die Wirkung nach außen. Nur so werden große Marken in Zukunft leben – und überleben – können.

 

 

Freiheit & Raum


Stets auf der Suche nach Freiräumen

Wenn man meiner beruflichen Karriere irgendeine Logik geben will, dann am ehesten die, dass ich immer Freiräume gesucht habe. Das ging in der Uni los, Meine Mutter war eine der seltenen Male sprachlos, als ich statt brav auf Lehramt zu studieren mich in Theater- und Kommunikationswissenschaften (plus Germanistik) eingeschrieben hatte. Texte schreiben und inszenieren war eine traumhafte Spielwiese – und dabei konnte man gut austesten, wieweit die Toleranz der Institutsverantwortlichen bei provokativen Inszenierungen ging. Und mit Rezeptionsforschung (samt Computerauswertung mit Lochkarten!) konnte ich die Wirkungsweise solcher Arbeit gut abzuschätzen lernen.

opengateDer nächste logische Schritt war es, Theater- und später auch Filmkritiken zu schreiben – und erste Reportagen im Kulturumfeld. Auch hier viel Freiraum. Den konnte ich dann extrem erweitern, als ich die Münchner Stadtzeitung mit Arno Hess gründete und redaktionell leitete. Hier gab es wirklich keine thematische Begrenzung. Wir nutzten das ausgiebig, um die Grenzen unseres Könnens und mit unseren investigativen Recherchen die Grenzen der rechtlichen Möglichkeiten auszuloten. (Siehe hierzu auch: Humor & Justitia.)

Verrückte Ideen Wirklichkeit werden lassen

Der nächste Schritt, neue Freiräume im Journalismus auszuleben war mein Wechsel zum WIENER. Als Chefreporter und später als stellvertretender Chefredakteur durfte ich lernen, wie mühsam und zugleich höchst befriedigend es sein kann, verrückte Ideen zu spinnen und sie dann doch in funktionierende Geschichten umzusetzen. Und die publizistische Wirkung von investigativen Geschichten wie etwa über das AIDS-KZ oder Alois Müller (Müller Milch) war ungleich höher – und brisanter.

Next Stop Trendforschung. Bei Scholz & Friends war ich im weiten Feld der sich stetig verändernden Szenen, technologischen und soziologischen Entwicklungen und der unendlichen Kreativität von Konsumenten-Bedürfnissen und -Ideen unterwegs. Eine der interessantesten neuen Entwicklungen, die die Firmen damals noch kaum wahr-, geschweige denn ernst nehmen wollten war das Internet. Meine Schilderungen über die unendlichen neuen Möglichkeiten, die hier entstehen könnten, wurden bestenfalls belächelt.  (Ausnahme: „West“ von Reemtsma.)

Aufbruch in The New Frontier

Na dann eben lieber selbst mitten hinein ins reale Geschehen, statt nur beratend am Rande zu stehen. Auf ins Internet, in The New Frontier, wie das Internet damals charakterisiert wurde: die neuen Gebiete, in die die Siedler Amerikas einst zogen, in die „the frontier of unknown opportunities and perils, the frontier of unfilled hopes and unfilled dreams“, wie es John F. Kennedy in seiner Inaugurationsrede als Präsident beschrieb: „Beyond that frontier are uncharted areas of science and space, unsolved problems of peace and war, unconquered problems of ignorance and prejudice, unanswered questions of poverty and surplus.“ Neue Freiräume, jetzt im neuen, weiten, leeren digitalen Raum.

Zuerst Europe Online, dann später MSN (Microsoft Network), dann eine eigene Firma und nun Beratungstätigkeit, zur großen Freude immer zusammen mit etlichen Mitentdeckern der neuen Freiräume – oder wenigstens in stetem Kontakt (etwa per Facebook). Es war anfangs sehr anstrengend, diese neuen Möglichkeiten real werden zu lassen. Aber immer hat es Spaß gemacht, sehr viel Spaß, immer neue Optionen zu entdecken und zu nutzen und zu verstehen. Immer ging es weiter in immer neue zu entdeckende (Frei-)Räume.

Das Beharrungsvermögen des großen Geldes

Sie waren nicht zuletzt deshalb frei, weil die großen Unfrei-Macher entweder diese digitale Welt nicht verstanden, sie unterschätzten und nicht für voll nahmen oder nicht mit ihnen umgehen konnten – und wollten: die (politischen) Institutionen und die Wirtschafts-Giganten. Gerade das große Geld wollte sich zunächst nicht auf das Internet einlassen, weil zu viele Risiken zu drohen schienen – und weil die bewährten Businessmodelle gut, allzu gut funktionierten. Das schuf die wirtschaftlichen Freiräume, die Google, Amazon oder Facebook so unendlich groß werden ließen.

Wir wundern uns, wie unsere Freiräume im Internet kontinuierlich – und ziemlich rabiat – immer mehr genommen werden. Kein Wunder. Ex-Google-Chef Eric Schmidt hatte das schon vor fünf Jahren kommen sehen. Er warnte damals in Aspen vor dem Beharrungsvermögen des großen Geldes und der politischen Institutionen, die kontinuierlich die Freiräume des Internets beschneiden wollen. Das tun sie seitdem in immer intensiverem Maß. Das große Geld, weil die überkommenen Businessmodelle immer schlechter funktionieren und die wirtschaftlichen Optionen des Internets immer deutlicher sichtbar sind (siehe Google, Amazon, Facebook & Co.).

Gemeinsame Interessen der Wirtschaft und der Politik

Das große Geld scheut das Risiko. Deshalb ist es so lange dem Internet fern geblieben. Nun sind die Risiken kleiner geworden – oder haben sich als kleiner als gedacht herausgestellt. Also gehen die großen Wirtschaftskräfte jetzt ins Internet. Das aber zu ihren Bedingungen: das Risiko soll noch kleiner werden, die Rendite dafür um so größer. Das heißt automatisch, dass die Freiräume kleiner werden. Denn Freiräume bedeuten in diesem tristen Spiel nur unliebsame Risiken und gebremste Renditen.

Die Interessen des großen Geldes korrelieren dabei optimal mit den Interessen der großen Institutionen, speziell der Politik. Die Macht der Politik droht durch die Beschleunigung und der Partizipation, die das Internet brachte, zu bröseln. Und die Risiken, die dabei entstanden, waren der Politik sowieso stets suspekt. Politik scheut Risiken, sie scheut und hasst sie. Politik ist schließlich im besten Fall dazu da, Interessen auszugleichen. Im nicht so optimalen Fall ist sie dazu da, Spezial-Interessen (der Wirtschaft, anderer Institutionen etc.) durchzusetzen. Also auch hier das essentielle Interesse, Freiräume zu beschneiden. Notfalls auch unter dem Deckmäntelchen, Freiräume beschützen zu wollen oder Arbeitsplätze oder alte, lieb gewonnene Rituale.

Wir Freiraum-Bewahrer

Was also tun? Wie können wir diese Freiräume bewahren? Durch Regulationen, durch Limitationen und Vereinbarungen mit Politik & Konsorten? Uups, das stößt sauer auf. Der alternative politische Widerstand ist mit dem Scheitern der Piraten an ihrem störrisch Nicht-Politisch-sein-Wollen und der charakterlichen Beschränktheit vieler ihrer Protagonisten krachend gescheitert. Bisher jedenfalls. Also Rückzug ins Private und dessen Surrogat an Pseudo-Freiräumen? – Disclosure in eigener Sache: Ich schreibe diesen Blogpost während der Olivenernte im schönsten Italien. Aber daher weiß ich: das ist definitiv keine Lösung.

Also Aufbruch zur Suche nach neuen Freiräumen jenseits der heute bekannten? Sollen wir alle programmieren lernen, um Freiräume in der Welt der Algorithmen zu schaffen? Oder gibt es Freiräume in anderen Bereichen, die wir gar nicht recht erahnen können? In den Wissenschaften? Oder in anderen Teilen der Welt? In China? Was ich davon höre, ist es dort einerseits schlimmer als bei uns, aber mit immer wieder überraschenden Optionen. In einem neuen Wirtschafts- und/oder Politiksystem? Angesichts der sichtlichen Erschöpfung jedes Faszinosums des kapitalistischen Systems und seiner politischen Ableger vielleicht gar keine so schlechte Idee. Oder in einer Welt ohne existenzielle Angst – mit Grundrente und sozialer Absicherung und neuen, endlosen kreativen Möglichkeiten?

Eines ist sicher: Ich bin weiter auf der Suche nach Freiräumen für mich, für meine Welt – und die Welt an sich… Wenn ich was gelernt habe aus meiner Biografie: Freiräume sind dazu da, ausgelebt zu werden und dabei an die Grenzen zu gehen.

Das Ende der Prinzen


Das deutsche Zeitungssterben

Der 13. November wird in die Annalen der deutschen Mediengeschichte eingehen. An dem Tag hat das Zeitungssterben endgültig auch Deutschland erreicht. Am selben Tag meldet die Frankfurter Rundschau Insolvenz an und der Jahreszeiten Verlag gibt bekannt, dass es die Stadtillustrierte PRINZ mit der Dezemberausgabe nicht mehr als Printprodukt geben wird. Lange genug gab es (nur) Unkenrufe, jetzt ist der Niedergang von Print Realität. Das bricht den Bann: Das Exempel macht es anderen Verlagen, die bisher aus Imagegründen defizitäre Print-Objekte noch irgendwie am Leben erhalten haben, nur leichter, demnächst auch den Stecker zu ziehen.

Die Einstellung von PRINZ trifft, wenn auch auf Umwegen, mich ganz persönlich. Kurz die Historie. 1979 habe ich im Münchner Cultura Verlag von Arno Hess die lokale Musikpostille „Pop Zeitung“ als Redakteur übernommen. Ich hatte den Job (nur) unter der Prämisse übernommen, dass ich daraus eine veritable Stadtzeitung mache. Und rund acht (Monats-)Ausgaben später war es soweit. Im September 1980 erschien die erste Ausgabe der „Münchner Stadtzeitung“.

Die Münchner Stadtzeitung

Eine Erfolgsgeschichte. Von der ersten Ausgabe an verkaufte sich die Münchner Stadtzeitung gut. Die Themen funktionierten: Schwulenszene, Atomkraftwerk in München (Garching), Mietskandale, die Titelbilder (von Arno Hess) waren knallig. Und von der ersten Ausgabe an war das Anzeigenvolumen groß, weil man von der Aufbauarbeit beim Vorgänger profitierte. Stetig stiegen Auflage, Heftumfang, Anzeigenvolumen – und rasch auch der Kleinanzeigenmarkt.

Der Erfolg hatte viele Väter. Die inhaltliche Schwäche der ideologisch verbremsten Konkurrenz „Das Blatt“ ließ die Leser und Kleinanzeigenkunden rasch zu uns wechseln. Arno Hess war ein exzellenter Anzeigenverkäufer und Vertriebsmensch. Und die Redaktion nutzte die Freiheiten, die die Konkurrenz der etablierten Blätter im Münchner Zeitungsmarkt eröffnete. Es gab genug Themen, die in der SZ, AZ und tz nicht behandelt wurden. Und die Zielgruppe der jungen Leser war damals überhaupt nicht in ihrem Scope. (War sie es je?)

Außerdem gab es damals in München unheimlich viele gute, junge Schreiber und Fotografen. Sie kamen von der Journalistenschule, von der Uni, von der Kunstakademie und anderen Fakultäten, samt Jura. (Ich selbst war Theaterwissenschaftler!) Sie alle suchten eine Plattform, auf der sie sich frei entfalten konnten, kreative Ideen entwickeln konnten und auch Risiken eingehen durften. Und sie wurden bei der Münchner Stadtzeitung auch entlohnt. Die Honorare waren nicht fürstlich, aber fair – und weit über dem Niveau ähnliche Blätter.

5 Erfolgsfaktoren

Es wäre vermessen zu glauben, die Münchner Stadtzeitung wäre nur erfolgreich gewesen, weil sie so gute Geschichten gehabt hat. Hat sie gehabt. Aber fünf Komponenten kamen da ideal zusammen:
1. Der penibel recherchierte und kommentierte Programmkalender mit Events und Konzerten. Das hatte damals kein anderer in der Stadt. Und als die Münchner Stadtzeitung dann 1984 14-tägig wurde, weil sie zu umfangreich für die Druckmaschinen geworden war, wurde der Programmteil noch besser.
2. Der Kleinanzeigenteil wuchs exponentiell und war dann – nicht nur wegen der witzigen Kommentare der „Sätzer“ – ein eigener redaktioneller Wert und Kaufanreiz. Das war User-Content, nur nahm das damals noch keiner als solchen wahr.
3. Die Redaktion war engagiert, ideenreich und vor allem authentisch. Mein Lieblingsspruch dazu: „Wir haben alle Fehler gemacht, die möglich waren. Aber immer zur genau richtigen Zeit.“ Wir haben aber auch viel richtig gemacht, und das nicht nur mit unseren investigativen Geschichten wie bei den Schwarzen Sheriffs. (Siehe dazu Artikel hier im Blog „Humor & Justitia“!)
4. Wir haben immer den Kontakt mit den Lesern gesucht. Dazu haben wir uns in der Redaktion immer wieder spezielle Aktionen ausgedacht: Spiele, Ausflüge, Radtouren; wir haben damals schon Kino-Previews mit Schauspielern veranstaltet, wir haben Stadtzeitungsparties mit angesagten Bands wie den Neonbabies mit Inga Humpe (jetzt: 2raumwohnung) organisiert oder auch eine Wahlparty der Grünen mit Petra Kelly & Co.
5. Und wir haben uns in der Redaktion mit dem Verleger gute Marketing-Aktionen ausgedacht. Leser rissen sich darum, riesige Aufkleber der Münchner Stadtzeitung auf ihre Autos zu kleben. Wir haben als Erste Coupon-Aktionen (hieß damals noch nicht so) durchgeführt, bis die SZ uns das gerichtlich verboten hat. Wir haben uns Spiele ausgedacht und ins Heft (und auf den Titel) gebracht, die wirklich innovativ und interaktiv waren. Noch Jahre später wurde ich von Menschen  nachts um 3 Uhr angerufen, weil sie gerade die Aufgabenkarte gezogen hatten, einen unbekannten Menschen anzurufen und mit ihm mindestens 15 Minuten lang locker zu plaudern. Besonders kreativ rachsüchtige Spieler machten sich die Mühe, mich im Telefonbuch zu suchen und anzurufen.

Naivität statt Zynismus

Der größte Erfolgsfaktor war aber das Team der Münchner Stadtzeitung. Mit vielen Autoren, Fotografen und Grafikern von damals bin ich heute noch in Kontakt. Mit einigen wenigen noch eng, mit vielen per Facebook, bei anderen kann man sagen: man liest sich – oder hört sich. Sehr viele der Redakteure und Autoren haben in Zeitungen, Zeitschriften und im Radio Karriere gemacht. Sie sind Chefredakteure, Ressortleiter, leitende Redakteure. Andere haben eigene Verlage gegründet und eigene Redaktionsbüros.

Uns allen war damals gemeinsam, dass wir engagierte Schreiber waren. Engagiert nicht nur im politischen Sinn, sondern im journalistischen Sinn. Wir glaubten an das, was wir schrieben. Wir hofften noch, die Welt so ein bisschen besser zu machen. Und wir hatten wohl erkennbar Spaß am Schreiben. Das war manchmal fast schon naiv. Aber wir waren definitiv nie zynisch.

Bis heute passiert es immer wieder, dass mich Menschen, hören sie meinen Namen, tatsächlich noch mit der Münchner Stadtzeitung in Verbindung bringen. Wenn ich dann deren Lob und Begeisterung für die Zeitung von damals höre, ist es mir fast peinlich. Die Vergangenheit wird ja immer etwas verklärt, aber damals scheinen wir wirklich den Nerv von vielen (jungen) Menschen getroffen zu haben. Kein Wunder, schließlich schrieben wir dort für unsere eigene Generation.

Die Prinzen kommen

1986 habe ich die Münchner Stadtzeitung verlassen und bin zum WIENER gegangen, d. h. ich wurde Mitglied der Gründungsredaktion des deutschen WIENER. Die sonst so peinliche Floskel stimmte in diesem Fall: Ich hatte – dringend – eine neue Herausforderung gesucht. Einige meiner besten Redakteure waren gerade von Tempo abgeworben worden. Später wurden sie die Gründungsredaktion von PRINZ in München. Irgendwann um das Jahr 1989 wurde dann die Münchner Stadtzeitung von PRINZ gekauft – und zu PRINZ München umfirmiert.

Unter der Leitung des Jahreszeiten Verlages wurden die lokalen Redaktionen zu reinen Event-Rechercheuren, die Geschichten wurden deutschlandweit angedacht  – und waren entsprechend austauschbar. Dasselbe galt für den Kulturteil. Lokales war gar nicht mehr wichtig. Und über die Jahre verflachten die Inhalte immer mehr. Ich habe es dann – zugegeben – schon seit längerem nicht mehr verfolgt. Bisweilen hatte ich noch Kontakt mit Personal des Jahreszeiten Verlages und von Prinz, etwa als ich für MSN nach Content-Zulieferern für einen lokalen Onlinedienst suchte. Aber die digitale Kompetenz damals in den 90er-Jahren war dort noch sehr unterentwickelt.

Die Prinzen gehen

Das Ende von PRINZ ist so gesehen nur noch logisch. Die Zeitschrift hat sich überholt. Keine der Erfolgsfaktoren der Münchner Stadtzeitung waren noch präsent. Arno Frank, ein Stadtzeitungsveteran, lästert noch kurz in Spiegel Online dem PRINZ hinterher. „Die Mutter aller Stadtzeitungen war eigentlich schon immer nutzlos.“ Mit der zweiten Hälfte des Satzes hat er Recht. Die „Mutter der Stadtzeitungen“ war PRINZ nie, das waren „Zitty“ und der „Tip“ in Berlin. Nicht einmal „Stiefmutter“ war sie, eher ungeliebte, unsensible, etwas großmäulige, entfernte Verwandtschaft mit Geld.

Der PRINZ verschwindet. Und das ist gut so.

Zeitreise ins eigene Ich


Wir sind Gewohnheitstiere

Das geht schon gut los. Ich will einen neuen Artikel in meinem Blog schreiben und WordPress bietet mir gleich mal ein neues Interface zur Eingabe an. Nicht mehr das übliche, an das ich mich gewöhnt habe… – Was soll denn das?…

Wir Menschen sind Gewohnheitstiere. Und das ist gut so. Denn wir würden viel zu oft unsere Synapsen sinnlos anheizen, wenn wir den Alltag stets so angehen würden, als wäre alles neu und ungewohnt. Wir wären ohne unsere Muster, unsere Gewohnheiten, unsere Rituale schlicht mit uns und der Welt permanent überfordert. Sind wir ja so schon, weil sowieso kontinuierlich neue Ideen, neue Anforderungen, Ungewohntes, Ungewolltes auf uns einprasseln.

Die Welt einfrieren

Kann es denn nicht mal so bleiben, wie es ist? Das hat sich sicher jeder schon mal in Momenten gefragt, wo alles im Lot zu sein schien und das Leben uns einmal die angenehmeren Seite zugewandt hat. Und nie ist der Wunsch in Erfüllung gegangen. Immer kam wieder etwas dazwischen, immer wieder hat sich alles geändert. Neue Widrigkeiten, neue Herausforderungen, neue Wendungen – und die Schicksalsschläge, die das Leben immer wieder bereit hält, sind da noch gar nicht mit gezählt…

Zugegeben, so habe ich auch mal gedacht. Als Jugendlicher und dann auch noch mal vor allem in der ersten großen Beziehungskatastrophe, die mich ereilte. Wenn alles in Ordnung war, wollte ich die Welt gleichsam einfrieren, damit sie so bleibt wie sie gerade ist. Es kommt ja nichts Besseres nach…

Ich habe recht lange gebraucht zu kapieren, dass es nicht reicht, verlässlich und funktionabel zu sein. Nichts ist langweiliger als das. Ich habe mir vergleichsweise lange Zeit gelassen einzusehen, dass es gerade die Veränderung, die kontinuierliche Entwicklung, der permanente Wandel ist, der das Leben – oder im speziellen Fall die eigene Persönlichkeit – attraktiv macht.

Die Innovations-Reaktionäre

Die erste Ahnung davon, dass Veränderung positiv sein kann, habe ich bei meiner Arbeit bei der Münchner Stadtzeitung bekommen. Ein faszinierendes Phänomen brachte mich darauf. Man schreibt eine Platten- oder eine Konzertkritik zu einem Künstler oder einer Band, die noch sehr unbekannt ist, aber vielversprechend. Dafür wird man von den Fans geliebt. Es flattern dankbare Leserbriefe in die Redaktion. – Aber wehe, wenn dieser Act ein Jahr später den Durchbruch geschafft hat und etwa in einer größeren Halle auftritt. Dann kommen die bösen Briefe, von wegen dass alles verkommerzialisiert ist – und man als Musikjournalist schuld daran war, weil man so positiv darüber geschrieben hat…

Ein eigenartiges Phänomen. Künstler gehören den Fans der ersten Stunde – und wehe sie entwickeln sich, dann erleben diese Fans eine veritable Veränderungsfrustration. Alles muss so bleiben, wie es ist, und wehe es ändert sich etwas. Selbst positive Entwicklungen, wie etwa Erfolg sind dann von Übel. Aus einst glühenden Fans werden dann – so habe ich es oft erlebt – erbitterte Stilreaktionäre, die jede neue Entwicklung verteufeln. Sie hassen jeden Stilwandel – und zerfließen in Seligkeit , wenn für Momente die gute alte Zeit irgendwie wieder zurückgekehrt zu sein scheint. Sehr gut zu beobachten heutzutage bei Revival-Konzerten wiedervereinigter Altrocker. Bestes Beispiel sind die Rolling Stones. Die sind eigentlich seit den 7oer-Jahren ihre eigene Coverband – und damit ungeheuerlich erfolgreich. Eingefroren in einem Stil und eine Attitüde.

Trends als Motor 

Musik war mein allererstes Vehikel, Veränderung als etwas Positives wahrzunehmen. Ich war immer begierig darauf, neue Sounds, neue Bands und neue Stile zu entdecken. Wie viele Nachmittage habe ich in Plattenläden verbracht und immer neue Platten ausprobiert. Später bei der Münchner Stadtzeitung kamen die Platten frei Haus und ich hatte das große Privileg, mich in immer neue Konzepte reinhören zu dürfen. Manchmal dauerte es etwas länger, bis sich meine Synapsen an neue Muster und neue Temperamente gewöhnt hatten. Etwa bei Techno und Rave. Da passierte mein Erweckungserlebnis ausgerechnet an einem Heiligen Abend, als ich zur Erholung von familiärer Weihnachtsidylle spätnachts noch ins Münchner Parkcafé flüchtete und da gerade eine Rave-Party abging.

Das wahre Erweckungserlebnis in Sachen permanente Veränderung – und wie ich sie lernte zu lieben – war meine Arbeit mit Gerd Gerken, damals Deutschlands führender Trendanalytiker und Wegbereiter für alle folgenden Trendforscher wie Matthias Horx & Co.  Ich arbeitete mit ihm beim WIENER zusammen und schrieb 1993 bis 1995 mit ihm das Buch „Trends 2015 – Ideen, Fakten, Perspektiven“, in dem wir versuchten, ein Zukunftsszenario bis zum Jahr 2025 zu skizzieren. Der Verlag verkürzte die Zeitspanne dann auf 2015, weil er befürchtete, zu wenige Leser könnten hoffen, dieses Jahr noch selbst zu erleben.

Die Welt der Zukunft

Spannend war damals nicht nur, sich in eine Welt voran zu denken, die absehbar digital zu sein versprach – obwohl das Internet damals in seiner Verbreitung noch nicht konkret präsent war. Mit jedem neuen Thema, das wir in dem Buch behandelten: Arbeitswelt, Entertainment, Sport, Wirtschaft – und auch Sex – war klar, dass die Welt, in der wir uns zu der Zeit damals befanden, schon nur allzu bald völlig anders aussehen würde. Und für unsere Ideen und Perspektiven, die wir damals aufzeichneten, müssen wir uns bis heute nicht schämen.

Parallel zu den möglichen Szenarien einer Welt der Zukunft machte mir Gerd Gerken Mut, auch mich selbst einmal in meine eigene Zukunft hinein zu denken. Das war damals für mich eine der essentiellsten Erfahrungen. Sollte jeder mal für sich versuchen: Wie sieht man selbst, mein Leben und meine Arbeit zehn Jahre, 20 Jahre, 30 Jahre oder mehr in die Zukunft hinein aus? Was ist da denkbar? Was will man dann tun? Was traut man sich zu? Was will man auf gar keinen Fall, was unbedingt?

Zeitreise in die eigene Zukunft

Das war wirklich ein einschneidendes Erlebnis, diese Zeitreise in mein eigenes Ich. Ganz klar war sehr schnell, dass mein Leben auf keinen Fall so bleiben sollte wie es war. Nicht weil es damals schlecht oder frustrierend war. Aber die Vorstellung, zehn Jahre später noch dasselbe tun oder denken zu sollen, wie damals, das war wirklich eine sehr grässliche Vorstellung. Viel schöner und spannender war es, sich in immer neue Zukunftswelten hinein denken zu können/dürfen. Erst so wurde mir deutlich, welche Perspektiven, welche Optionen mein Leben vielleicht für mich noch bereit halten könnte.

Klar war, dass Veränderung der Schlüssel zu einer begehrenswerten Zukunft war. Dass Ziele und Visionen, Ideen und Perspektiven nötig waren, um in dieser Zeitreise in die eigene Zukunft und das Ich, das ich einmal sein wollen könnte, wirklich erlebenswert zu machen. Und erstrebenswert. Und lebenswert.

Mein Leben hat das damals nicht sofort verändert. Um so mehr aber langfristig. Ich wäre heute wohl nicht da, wo ich heute bin; ich würde nicht das Leben leben, das ich heute lebe, wenn ich damals nicht diese Reise in meine eigene Zukunft gewagt hätte. Und ich würde vielleicht nicht das Glück empfinden und erleben, das ich heute so oft genieße. Und ich wäre wohl nicht so entspannt und zukunftsfreudig. Und einiges Positive mehr…

Die Effizienz-Evolution


Die perfekten Anpassler

„Survival of the Fittest.“ So hat Darwin einst das Evolutionsprinzip definiert. Er zitierte dabei den britischen Sozialphilosophen und Begründer der Evolutionstheorie Herbert Spencer. „The fittest“, das sind im evolutionären Spiel nicht die Stärksten. Es sind nicht die Intelligentesten. Diejenigen sind die „fittest“, die sich am besten und schnellsten neuen Bedingungen anpassen können. Sieger der Evolution ist, wer schnell und richtig mit neuen Gegebenheiten umgehen kann.

Die Floskel: „Wie haben wir das eigentlich früher gemacht? – Hat doch auch irgendwie funktioniert.“ ist eine geflügelte Phrase geworden, wenn sich ältere Semester einer 20 oder 30 Jahre zurück liegenden Arbeits- oder Lebenswirklichkeit erinnern. Kinder/Jugendliche verdrehen dann entnervt die Augen nach oben. Zu oft haben sie erzählt bekommen, wie einst in den Prä-Internetzeiten per Fax kommuniziert wurde. Oder per Telex. Oder wie kompliziert es war, von unterwegs zu telefonieren, als es noch keine Handys gab. Oder wie einst mit Schreibmaschine und Durchschlagpapier geschrieben wurde.

Schreibwaren-Nostalgie

Ich besitze aus Nostalgiegründen noch immer ca. 20 Blatt Kohlepapier. Gibt es die überhaupt noch zu kaufen? – Google beruhigt: Gibt es noch, ein 10er-Pack kostet etwa bei Staples 4,99 Euro. – Aber wer im Himmel benutzt das heute noch? Und wofür? Für das Ausfüllen von Formularen? – Noch solch ein aussterbendes „Kommunikationsformat“. Einst bei der Münchner Stadtzeitung war unsere mit Abstand beste Setzerin im Hauptberuf „Formularsetzerin“. Für die Stadtzeitung arbeitete Dagmar, weil sie es satt hatte, immer nur sinnentleerte Arbeit zu leisten. – Aber kurioserweise war sie als Setzerin so gut, so fehlerfrei und schnell, weil sie die Texte, die sie setzte, nicht las, sondern ohne Kenntnis des Inhalts einfach die Buchstaben eines Manuskripts 1 zu 1 per Kugelkopfschreibmaschine auf die Satzmatrize hackte.

Wir bewunderten ihre Fähigkeiten damals immens. Wir waren aber in unserer Eitelkeit auch ein wenig gekränkt, weil unsere so tollen Inhalte an ihr wirkungslos vorüber zogen. Wir ahnten damals in den Vor-Computer-Zeiten Anfang der 70er-Jahre noch nicht, wie „digital-mäßig“ Dagmar zu dieser Zeit schon arbeitete. – Aber sie wusste es ja selbst nicht.

Auf eBay etwa gibt es heute noch Kugelkopfschreibmaschinen (gebraucht) zu kaufen, und Farbbänder dafür gibt es auch noch. Für eine Unzahl von Modellen. So viel zum Thema Veränderung – und Beharrungsvermögen. Es muss noch heute Menschen geben, die beharrlich die Neuzeit und ihre Errungenschaften verweigern – und lieber wie gewohnt mit Schreibmaschine und Farbband Texte schreiben. Und ja, Tipp-Ex gibt es auch immer noch.

Sehnsucht nach Depperltätigkeiten

Es gibt zwei Haltungen, mit denen man solch einen nostalgischen Ausflug in die Vergangenheit , als es noch „Schreibwaren“ gab und Apps noch Apparate oder Apparaturen waren, unternehmen kann. Die eine ist die des „Früher-war-alles-besser“ inklusive einer Verklärung der Ungelenkheit und Langsamkeit früherer Prozesse – und eine Absage an das Prinzip der Evolution. Die andere ist das erwähnte „Wir-haben-das früher-doch auch-super-hingekriegt“. Unser angeborener Verdrängungsmechanismus hat längst den vielen Ärger und den vielen Frust verdrängt, den uns umständliche Depperltätigkeiten massenhaft bereitet haben. Und warum waren wir bereit, all die neuen Dinge und Technologien zu akzeptieren, mit denen wir alle so viel effektiver geworden sind, wenn das damals alles so prima gewesen ist?

Aber jetzt denken wir mal weitere 20 oder 30 Jahre nach vorne. (Dank Innovation hat sich unsere Lebenserwartung ja entsprechend gesteigert.) Dann werden wir auf heute zurückschauen und uns beömmeln, wie gestrig, wie ineffektiv und wie sperrig das alles war, was wir heute als Selbstverständlichkeit erleben. Beispiel Auto: selber Auto fahren, Gangschaltung, tanken, sich verfahren, Auto kaufen. Beispiel Behörden: Steuererklärungen machen. Monatlich! Quittungen geben lassen, aufheben, sortieren, verbuchen, einreichen. Mehrwertsteuer herausrechnen etc. Beispiel Schreiben: Texte tippen, Tasten drücken, vertippen, korrigieren, gegenlesen. – Amelie Fried sinnierte vor kurzem auf ihrer Facebook-Seite: „Schaue aufs Meer und denke über mein neues Buch nach. Gibt es eigentlich schon Apparate, die Gedanken direkt in den Computer übertragen? Ich finde, das würde eine Menge Arbeit sparen.“ Nicht ausgeschlossen, dass das in 25 Jahren möglich ist.

Plateau oder exponential

Man muss eigentlich nur mal innehalten und nachdenken, womit man im Alltag am meisten Zeit verplempert – und was einen davon eigentlich im Grunde ärgert. Ich nehme Wetten an, dass die meisten dieser Vorgänge in 25 Jahren der Vergangenheit angehören. Technisch ist dann alles machbar – man bedenke nur, was bis dahin Computerchips für gigantische Rechnerleistung bieten, wenn Moore’s Law nur halbwegs weiter gilt. Für alles, was unfreiwillig Zeit verbrennt und Mühsal bereitet, wird es bis dahin eine technische Lösung geben.

Fragt sich, wie wir Menschen mit solch einer Explosion an Effizienz – und Beschleunigung – umzugehen lernen. Es gibt dazu drei Denkschulen, wie die technologische Entwicklung weitergehen wird. Die eine meint, dass wir nach der Effizienz-Explosion des Internet ein neues Plateau erreichen werden, auf dem sich die Dinge nach vielen Disruptionen, Umwälzungen und Machtwechseln wieder mit weniger Tempo entwickeln werden. Jeff Jarvis denkt in etwa so, wenn ich ihn in richtig verstehe. („Gutenberg, the Geek„)

Pessimisten und Optimisten

Die andere Denkschule erwartet, dass sich die Entwicklung nicht abflachen und weiter exponentiell in die Höhe schießen wird. Unaufhaltsam. Hier scheiden sich die Geister. Die Pessimisten befürchten, dass wir uns damit überfordern und unsere Psyche (und Physis) das nicht aushalten wird und eine Gesellschaft von Depressiven und chronisch Hyperaktiven entsteht, die sich in ihre Bestandteile auflösen wird. Die Optimisten vertrauen darauf, dass sich die Menschheit noch jeder evolutionären Herausforderung gewachsen gezeigt hat und auch weitere Effizienzsteigerungen und Beschleunigungen aushalten wird. Die Esoteriker unter ihnen träumen sogar von einer neuen Wirklichkeitsstufe, die so zu erreichen wäre. („Die Prophezeiungen von Celestine„)

Meine Vermutung ist, dass die menschliche Psyche viel zu stabil ist, als dass sie echt gefährdet wäre. Noch jede Effizienzsteigerung hat auch zu mehr Freizeit und Freiraum geführt. Noch jede Übersteigerung und Übertreibung hat sich nivelliert. Gerade das Phänomen Google und unsere Fähigkeit binnen kürzester Zeit unnützes Wissen – weil jederzeit per Google verfügbar – los zu werden, belegt diese These. Unsere Gehirne werden nicht rasch wachsen können. Aber wir werden unsere Fähigkeit, entlernen zu können, immens optimieren müssen. So wird auch unser Gehirn effizienter – und wird befreit von allem überflüssigen Detailwissen, allem unnützen Ballast und störenden Verkrustungen. Unsere Setzerin Dagmar damals hat es uns quasi schon damals vorgelebt.

So könnte der Weg zu einem Leben in einem stark beschleunigten Flow frei werden, in dem man sich behände in einem beschleunigten Stream der Veränderungen bewegt, wie ein Fisch in einem reißenden Gewässer. Und der weiß nicht nur klug Stromschnellen zu nehmen, sondern findet immer auch wieder ruhige Buchten zum Innehalten. Und das tut er sehr effizient.

Die Unverschämtheit zu schreiben


Schreiben aus Freude

Ich war in der Schule berüchtigt für meine Aufsätze. Egal wie viel Zeit für Schulaufgaben vorgegeben war, mir ging immer das zur Verfügung gestellte Papier aus. Nicht weil ich eine so ausschweifende Schrift gehabt hätte – im Gegenteil – aber ich schrieb immer viel und gerne. Ja, auch gut. Meine Einser in Deutsch waren keine Kapitulationserklärungen meiner Deutschlehrer, denke ich. Aber so gern, schnell und gut ich schrieb, ich wäre damals nie auf die Idee gekommen, dass Schreiben einmal mein Beruf werden könnte.

Bis es soweit kam, brauchte es vielerlei Umwege. Meinen ersten bezahlten Artikel schrieb ich als Rezensent für Kirchenmusik (!) in einem evangelischen Kirchenblatt – und das nicht mal unter meinem eigenen Namen, denn das war damals schon mein erster Text als „Ghostwriter“. Richtig ins Schreiben kam ich bald darauf als Theaterkritiker in der Münchner Theaterzeitung (für freie Bühnen), dann endlich unter meinem eigenen Namen. Aus dem Ghetto des Feuilletons befreite ich mich mit der Gründung der Münchner Stadtzeitung, in der neben Kultur auch alle Themen bis hin zu Politik und Zeitgeist zu schreiben – und zu organisieren waren.

Einmal Hybris und retour

Das Gros der Autoren, die damals für die Münchner Stadtzeitung schrieben, stammte aus der Deutschen Journalistenschule in München. Unter ihnen waren etliche erstklassige Schreiber, die heute überall in renommierten Medien schreiben und leitende Stellen bekleiden. Und ausgerechnet diesen Autoren, denen in der Journalistenschule neben solidem Handwerk auch ein sehr gesundes Selbstbewusstsein beigebracht worden war, durfte ich unbedarfter Autodidakt bisweilen erklären, warum mir ein Artikel (noch) nicht gefiel und was vielleicht besser gemacht werden könnte. Und ich durfte die fertigen Werke redigieren und mit Headline etc. ausstatten.

Was für Akte der Hybris – wenn man mit Abstand zurückblickt. Damals erschien mir das als das Selbstverständlichste der Welt. Mein Selbstbewusstsein, das sich aus kontinuierlich steigenden Auflagen und viel positivem Feedback (und bisweilen ein paar Promille) speiste, wuchs sich zu einer veritablen Selbstüberschätzung aus. Glücklicherweise hatte ich damals etliche wohlmeinende Freunde und Kollegen, die das eine Weile geduldig ertrugen, mich dann aber allmählich, aber wirksam auf den Boden der Realität herunter holten.

Dös hupft net

Noch weiter in die Realität brachte mich dann die Arbeit beim WIENER. Das erste Mal, dass ich einen Chefredakteur über mir hatte. Und einen kritischen noch dazu. Berühmt der trockene – manchmal fast verzweifelte – Kommentar von Wolfgang Meier, wenn ein Artikel noch nicht rund war – oder seinen Erwartungen nicht entsprach: „Dös hupft net!“ Was hat mich diese Floskel Nerven gekostet. Und es hat einige Zeit gedauert, bis ich verstand, dass das mehr als eine Floskel war, und – wenn auch sehr frugal – den Kern einer funktionierenden Geschichte beschreibt.

Nie habe ich in diesen Jahren am Schreiben selbst gezweifelt. Dabei wäre das doch mehr als selbstverständlich gewesen. Denn warum sollen andere Menschen lesen, was ich mir ausgedacht habe? Es gab ja nie eine Instanz, die mir erlaubt – oder empfohlen – hätte, zu schreiben. Jeder Artikel, vor allem in den frühen Jahren, war eigentlich ein einziger Akt der Anmaßung, dass ich etwas zu sagen hätte. Und das das andere interessieren könnte. Natürlich hatte ich mehr als oft meine Zweifel beim Schreiben, ob das jetzt wirklich gut sei, was ich da fabriziere. Aber es nutzt ja nichts. Am Schluss musste der Artikel raus, zum Redakteur, zum Satz. Aber im Grunde genommen war jeder Artikel eine Unverschämtheit – in des Wortes Bedeutung: Ich hatte keine Scham, es zu veröffentlichen.

Der schreibende Narzisst

So gesehen ist jede Veröffentlichung, jedes Öffentlichmachen eines Textes ein sehr narzisstischer Akt. Ohne die Trennung des Selbstbewusstseins vom Selbstzweifel, ohne eine Art notorischer Selbstüberschätzung, eine gewisse Selbstverliebtheit und ein Sendungsbewusstsein ist eine journalistische Arbeit kaum denkbar. – Es gibt eben nicht nur negative Seiten des Narzissmus. (Siehe dazu auch: „Narzissmus de-loaded„.)

Dieser Narzissmus, der hinter jedem kreativen Werk, ob Text, Bild, Foto, Film oder Komposition steht, prägt jetzt auch die vergleichsweise hitzige bis bittere Diskussion über Urheberrechte und eine angemessene Bezahlung von Autoren und anderen kreativ Schaffenden. Es ist fast unmöglich, zu dem Thema eine sachliche Diskussion zu führen. Sofort wird höchst emotional reagiert. Regt man vorsichtig eine Verkürzung der Schutzzeit auf zehn Jahre nach dem eigenen Tod (!) an, wird erregt auf die drohende Verelendung des Nachwuchs verwiesen. Traut denn kein Autor seinem Nachwuchses zu, selbst sein Geld zu verdienen? Und sind wichtige, gute Texte, die das Denken voran bringen, nicht das bessere Erbe?

Und allzu gerne werden Ziegelsteine mit Birnen verglichen: „Ein Haus bleibt ja auch länger als zehn Jahre nach Deinem Tod bestehen!“ Und schon ist die Diskussion im Eimer, da unsachlich, da emotional. Die Folge: Aggression, Verbitterung, Monologe. (Ein gutes Beispiel für die vergiftete Tonalität sind auch die Kommentare zu meiner kurzen Replik auf Sven Wegener am 23. März auf Facebook.)

Kreatürlich ungenaue Erinnerung

Der Narzissmus des Kreativen scheint für die Tatsache zu verblenden, dass jede Schaffensarbeit auf den Vorleistungen anderer aufbaut. Auch ohne jeden Anflug von Plagiat baut jeder Text, jede Geschichte, jeder Film auf anderem auf. Er ist ein Sampling, das im eigenen Kopf unbewusst abläuft. Man muss sich nur ein wenig mit Gehirnforschung und den Abläufen von Denkprozessen beschäftigen, um zu erahnen, wie unser Gehirn Gedanken aus seinem nur scheinbar amorphen Speicher an Erinnerungen, Bildern, Worten und Ideen kreiert. Es tut das nie aus dem Nichts heraus, sondern es erinnert sich sozusagen kreatürlich ungenau. (Siehe dazu auch „Positives Trauma„.) – Und im besten Fall beruht das alles noch auf einer Recherche. Das aber ist nichts anderes als eine – hoffentlich – möglichst genaue Beschreibung einer existierenden Wirklichkeit.

Auch wenn mir das weitere Schelte einbringt. Bitte, bitte, liebe Autoren, liebe Musiker, liebe kreativ Tätigen, überschätzt Euch und Euer Tun nicht. So schön das alles ist, es sind alles keine Werke eines gottgleichen Genius. (Auch wenn der Genie-Glaube hierzulande noch immer hoch im Kurs steht.) Es sind einfach Werke. Werke, die wenn sie gut genug sind, auf alle Fälle bezahlt gehören. Wenn sie wirklich sehr gut sind, gerne auch hoch bezahlt. – Die Rechte an dem Werk sollten einem ewig gehören, aber die Nutzungsrechte für eine kommerzielle Nutzung längstenfalls das eigene Leben lang.

Die private Nutzung aber sollte immer frei sein. Damit neue kreative Werke entstehen können. (An denen sollte man dann natürlich partizipieren, wenn sie Geld machen.) Vielleicht entstehen so dann auch Werke, die nicht von der bleiernen Last eines sinnentleerten Narzissmus belastet sind. Werke, die locker und entspannt entstehen und nicht die Selbstüberhöhung einer gottgleichen Intuition brauchen, um den Weg in die Welt zu schaffen. In diesem Sinne – nix für ungut…

Wirkung und Piraten


Krise der Krise

Wenn man Nachrichten liest oder im Radio hört oder im TV sieht, dann ist es ein Wort, das wirklich keiner mehr hören will und kann: „Krise“. Wenn es eine veritable Angst vor Inflation gibt, dann vor dem inflationären Gebrauch dieses Wortes. Kein Tag ohne neue Volte zum Schlechten, kein Tag mit einem neuen Plan, alles in den Griff zu bekommen. Zugegeben, das politische Personal für die Perma-Krise ist hochqualifiziert. Papandreou und speziell Berlusconi sind echte Garanten für Sisyphos-Arbeit, denn sie haben beide eine andere Agenda als die der Rettung des Euros: die Rettung der eigenen Karriere bzw. dem Entrinnen strafrechtlicher Verfolgung.

Cover der englischen Neuausgabe von George Orwells "1984". Wie zeitgemäß das ist: "Ignorance is Strength". Silvio Berlusconi & Co,. lassen grüßen.

Mich erinnert dieses Trommelfeuer an Krisen-Situationen – und Krisen-Unkereien – sehr an die mediale Unterjochung durch Dauerkonflikte, wie sie George Orwell in seinem Roman „1984“ beschrieben hat. Faszinierend, wie nach 10 Jahren Dauerstress durch den Kampf gegen Osama bin Laden und seine Terrorkommandos jetzt ein neuer Schauplatz von Angst und Schrecken mit viel Potential für „nachhaltige“ Krisenkultur entstanden ist. Angela Merkel schätzt schon mal, dass es mindestens zehn Jahre dauern wird, bis die Krise des Euros oder wahlweise der Banken oder des Finanzsystems behoben sein könnte. Auch eine Art von Verlässlichkeit.

Mediale Sozialisation

Ich hatte im (Humanistischen) Gymnasium das Privileg, im Deutsch- und Sozialkundeunterricht ca. ausgiebig „Medienkunde“ zu haben (anno 1972!) und ausgiebig die Wirkungen von Presse, Presseagenturen (!) und TV vermittelt zu bekommen. Aber meine wirksamste mediale Sozialisation habe ich im Englisch-Unterricht bekommen, eben durch Orwells „1984“. Da habe ich erahnen können, wie manipulierte und manipulierende Medien Wirkungen auf eine Gesellschaft und ihre Kultur haben können.

Wie viel Wirkung die Medien  wirklich haben, konnte ich dann über Jahre im praktischen Selbstversuch erleben. Bei der Münchner Stadtzeitung und beim WIENER. Mal bitterernst, wenn es um investigative Geschichten wie die „Schwarzen Sheriffs“ oder die Gründung von „AIDS-KZs“ ging. Oder auch extrem kurios, wenn wir etwa den Müll von Prominenten analysierten oder den reichsten und mächtigsten Deutschen einen Scheck über 1,23 DM schickten, dessen Einlösung teurer als der Wert des Schecks war. (Der ernste Teil war, dass ich jahrelang kein Konto mehr bei einer großen deutschen Bank eröffnen konnte.)

Nächtliche Rache

Die wohl kurioseste Wirkungs-Episode war dann über Jahre die eher anstrengendste. Bei der Münchner Stadtzeitung hatten wir des Öfteren für unsere Leser auch Spiele entwickelt und mit der Zeitung ausgeliefert. Brettspiele mit sehr kreativen und vielleicht auch gemeinen Aufgaben. So bekam man etwa entsprechend viel Punkte für jede Minute, die man einen willkürlich angewählten Telefonpartner im Gespräch hielt.

Was wir damals nicht recht bedacht hatten war die Tatsache, dass solche Spiele gern spät nachts gespielt werden – und dann die Hemmschwellen eher niedrig sind. Der Endeffekt war jedenfalls, dass ich über Jahre hinweg immer wieder nachts Anrufe bekam – auch um 3 oder 4 Uhr morgens – um mit mir viele Minuten am Telefon zu verbringen, um Punkte zu sammeln. – Wie witzig. – Aber wir hatten halt findige Leser.

Sind Sie der Konitzer?

Wie sehr TV wirkt, habe ich dann viele Jahre später durch Günther Jauch erleben dürfen. Ich war für meine Ex-Frau Beate, die es in die Sendung „Wer wird Millionär“ geschafft hatte, als Telefon-Joker vorgesehen. Ich war an dem Tag der Aufzeichnung aber in Italien in Urlaub, aber unser Urlaubsdomizil hatte einen Festnetzanschluss. Nachmittags war schon ein Kontrollanruf – und dann hieß es, ich sollte mich bis 22.00 Uhr bereit halten, so lange dauert die Aufzeichnung. Kein Problem, ich wartete und drückte Beate die Daumen, dass sie es auf den Stuhl schaffen möge.

Die Zeit verrann, ich war nie weiter als 10 Meter vom Telefon entfernt. Ich traute mich nicht mal aufs Klo zu gehen, man weiß ja nie. Irgendwann war es 22.00 Uhr. Aber ich hielt noch durch, man weiß ja nie. Erst um 22.30 Uhr wagte ich mich auf die Toilette – und es kam wie es kommen musste, genau dann klingelte das Telefon. Ich schaffte es noch innerhalb der vereinbarten fünf Klingelphasen, und tatsächlich Günther Jauch war am Telefon.

Ich hatte mir eine Strategie zurecht gelegt, wie ich das Gespräch lenken wollte, um möglichst viel Andeutungen zur Frage vorab zu bekommen. Abgesehen davon, dass ich schon gestresst an den Hörer kam, nahm mir Günther Jauch sofort allen Wind aus den Segeln mit der Frage: „Sind Sie der Michael Konitzer?“ Er kannte mich und meine Arbeit bei der Münchner Stadtzeitung und beim WIENER inklusive meiner investigativen Recherchen und interviewte mich dazu in aller Länge. Auch so kann man Wirkung erzielen. – Ich habe dann tatsächlich die Frage beantworten können – es ging um den Ural als drittlängsten Fluss Europas. – Beate war mir sehr dankbar…

Die nächsten Tage habe ich dann real erfahren, wie bekannt man werden kann, wenn man in einer gern gesehenen Sendung nur per Telefon erlebbar ist. Die Nachbarschaft, alle Verkäufer, die meinen Namen kennen, Kollegen, Freunde und eher unbekannte Menschen riefen an und schrieben Mails. (Das war noch weit vor Erfindung von Facebook & Co.) Noch Monate später wurde ich immer wieder auf Jauch und meinen Cameo-Auftritt angesprochen.

Ohnmacht vor Piraten

Diese (kleine) Wirkungshistorie von Medien im Hinterkopf, bin ich dann doch erschrocken, wie sehr die etablierten Medien an Durchschlagskraft und Effizienz verloren haben. Den Zeitungsmachern und TV-Redakteuren muss doch der Schrecken in die Glieder gefahren sein, als sie nach der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses sehen mussten, wie die Piraten fast 8 Prozent der Stimmen eroberten, obwohl sie so gut wie keine Presse bekommen hatten und in keine TV-Runde im Vorfeld der Wahl eingeladen waren. Man kann heute auch abseits der großen Meinungsmacher Wahlerfolge feiern.

Und diesen Gedanken weiter gedacht: Wie wenig Wirkung zeitigt letztlich doch die kontinuierliche Bombardierung der Bevölkerung mit wirtschaftlichen Untergangsszenarien. Wie krisenimmun sind wir letztlich schon geworden. Wir widerstehen nicht nur alljährlich neu beschworenen Killerviren und drohenden Epidemien. Wir geben sogar unbeirrt weiter unser Geld aus, vielleicht sogar etwas mehr mit leichter Hand, wenn es denn schon bald nichts mehr wert ist. Wir lassen uns nicht unterkriegen. – Und das ist gut so.

Damit hat Orwell nicht gerechnet, dass man immun gegen Panikmache und Krisenbeschwörungen werden kann.

Digitale Gratiskultur


Tim und Kai-Hinrich Renner: Digital ist besser (Campus Verlag)

Eine spezielle Situation. Ich kenne beide Autoren, den einen (Tim) flüchtig aus meiner Zeit als Musikkritiker, den anderen (Kai-Hinrich) sehr viel besser, weil ich mit ihm beim WIENER zusammengearbeitet habe und ihn dort als energischen Journalisten und als gewitzten und engagierten Menschen zu schätzen gelernt habe. Jetzt kenne ich die beiden aber noch viel besser, weil sie anhand ihrer eigenen Biografie im Hamburg der 70er und 80er ihre Ich-Werdung im Kosmos der Pop-Kultur beschreiben. Und das tun sie in einer ebenso sympathischen wie exemplarischen Weise. Ich bin nun noch ein paar Jahre älter als die beiden, aber meine Ich-Findung fand ebenso in der Pop-Kultur (na ja, auch in der Rock-Kultur) statt wie bei ihnen.

Die Kernthese des angenehm locker geschriebenen Buches (Campus Verlag) ist die: Wer seine Sozialisation in der Pop-Kultur erlebt hat, tut sich mit der digitalen Kultur und ihrer Spontaneität und Fluidität (sehr viel) leichter als alle diejenigen, die den bildungsbürgerlichen Kulturkanon als Leitbild ihres kulturellen – und vor allem ihres medialen – Daseins gewählt haben. Also die gesamte Kaste der etablierten Journalisten und Medienmacher bis hin zu jüngeren Semestern wie Frank Schirrmacher, der seine Digital-Phobie immerhin als Buch-Bestseller vermarkten konnte: „Payback“ (Blessing Verlag).

Sozialisierung durch Alvin Lee & Co.

So sehr meine Eltern es versuchten, mich mittels Oper, Theater, Büchern und Kirche bildungsbürgerlich zu erden, sie konnten gegen die Faszination der Rock- und Pop-Kultur nicht an. Ende der 60er emanzipierte ich mich aus dem elterlichen (klein-)bürgerlichen Kultur-Ghetto mit Hilfe meiner E-Gitarre unter gütiger Mithilfe von Alvin Lee, Tommy Iommi, Peter Green, Rory Gallagher, Jimi Hendrix und Robert Fripp u.a.. In den 70er-Jahren wurde ich zum eifrigen Plattensammler, soweit es karges Taschengeld und bisweilen ansehnliches Honorar aus vielen Jobs (Briefträger, Nachhilfe, Schreiben) zuließen. Die 80er Jahre über bis Mitte der 90er-Jahre kamen die Platten – und später CDs – frei Haus, weil ich in der Münchner Stadtzeitung und dann beim WIENER kontinuierlich und viel über Musik (Platten, Konzerte) schrieb und reihenweise Pop-, Rock und Filmstars interviewte.

Und dann, als ich beim WIENER kündigte und nach Hamburg zu Scholz & Friends als Trendforscher und Zukunftsberater ging, war schon das Internet da, zunächst als seltsames Schlupfloch bei Compuserve. (Danke Anatol, dass du mich damals erstmals in diese fremde, neue Welt, die damals noch sehr grau war und keine Bilder kannte, mitgenommen hast!) Bald danach hatte ich sehr zu kämpfen, dass die Kunden den Trend Internet a) verstanden und b) seine Perspektiven wenigstens zu erahnen bereit waren. So wurde ich zu einem der ersten „Experten“ in diesem Thema hierzulande.

Mitschuld an Gratiskultur

Ab dann durfte ich die digitale Kultur aus operativer Sicht kennen lernen, verstehen lernen – und sie aktiv mitgestalten. Zuerst bei Europe Online, dann bei Sidewalk von Microsoft und dann bei MSN (Microsoft Network), wo ich das erste deutsche Portal gestalten durfte. Ich war damals aktiv mit schuld daran, dass die Gratis-Kultur des Internets in Deutschland entstand, die Kai-Hinrich Renner nicht müde wird in „Digital ist besser“ zu beklagen.

Europe Online wollte zunächst wie America Online für alle Inhalte Abonnement-Gebühren verlangen. Als dann aber die proprietäre Software nicht funktionierte und wir auf das HTML-Format (Netscape 2.0) wechselten, war bald klar, dass die Inhalte zum Großteil gratis sein sollten. Damals wurde schon ein ähnliches Modell diskutiert, das jetzt die New York Times einzuführen versucht. Bei uns hieß das das „Zwiebel-Modell“: Viele Inhalte sollten gratis sein und die User locken. Genau das macht die NYT jetzt auch, 10 Seitenabrufe sind gratis, danach muss man sich registrieren – und alle Links von Google, Facebook oder Twitter sind auch stets kostenfrei. Danach fällt die Zahlschranke – und um die mühsame Einzelabrechnung gelesener Inhalte einfacher zu machen, werden attraktive Abonnements (für Print plus Online, iPads oder Online only) angeboten.

Technisches Manko

Genauso war es mal für Europe Online angedacht. Leider war damals keine technische Lösung für solch ein Modell zu entwickeln. Wie auch? Das war noch bevor Content Management Systeme (CMS) entwickelt waren. Also wurden alle Inhalte gratis ins Netz gestellt. So wie es der Spiegel und Focus bald danach machten. Das geschah als Vorsichtsmaßnahme, damit nicht etwa irgendwelche Garagenfirmen den Verlagen die Leser abspenstig machen würden. Das war damals die höchste Angst der Verleger.

Die Garagenfirmen schlugen dann aber ganz wo anders zu. Weil die Verleger es verabsäumten, in ihren Häusern eigenes digitales und technisches Know how aufzubauen, entstanden aus „Garagen“ heraus technikgetriebene Firmen wie Scout24, wie Mobile, wie Parship oder StepStone, die den Verlagen – ohne großen Widerstand – alle Rubriken-, Kontakt- und Jobanzeigen abspenstig machten – und so den Anfang der wirtschaftlichen Talfahrt initiierten. Diese Gratiskultur war den Verlagen damals nicht geheuer. Damals hätte ihnen gesunder Kannibalismus und weniger Angst vor neuen digitalen Geschäftsmodellen gut getan. Die sind, zugegeben, komplexer und scheinbar weniger ergiebig. Aber wie eine andere Garagenfirma bewiesen hat, kann derjenige, der die digitale Technik und die digitale Kultur versteht, durchaus damit sehr viel Geld verdienen: Google beweist das tagtäglich.

Keine Angst vor der Digitalität

Das ist dann auch die spezielle Stärke von „Digital ist besser“: Es widerlegt elegant alle Angst- und Horror-Szenarien zur digitalen Kultur. Das Buch macht Mut und Lust, sich auf das Internet, die digitale Kultur (samt Games) – und auch auf Social Media – einzulassen. Das tut es vor allem auch, weil es kein abstraktes Traktat ist, sondern weil man so viel über die beiden Autoren und ihren Weg  via Popkultur in die digitale Kultur erfährt.

Verlust der Deutungs-Hoheit


Die Zeitungen in Deutschland sterben 2030?

Jetzt wissen wir es endlich genau. Der amerikanische – selbsternannte – Futurist und Strategieberater Ross Dawson hat es in seinem Blog gewagt, das Ableben der Zeitungen in ihrer gedruckten Form (engl. „newspaper„) weltweit exakt zu terminieren. Das geht 2017 in den USA los, 2019 folgt Großbritannien, 2020 Kanada und Norwegen. Deutschland hat seiner Meinung nach noch eine Galgenfrist bis ins Jahr 2030. Ganz am Ende der Entwicklung stehen die Mongolei (2038), Argentinien (2039) und das komplette Afrika (2040+). (Die komplette Weltkarte dazu ist beigefügt.)

Wäre man zynisch, dann könnte man solch eine Prognose als smartes Akquisetool und Arbeitsbeschaffungsmaßnahme werten. Denn die Reaktion auf das exakt datierte Zeitungs-Dahinscheiden ist weltweit schon beträchtlich und diese Aufmerksamkeit und die Chuzpe, genaue Jahreszahlen zu prognostizieren, garantiert Einladungen zu Vorträgen, Symposien und Kongressen.

Self Fulfilling Death

Solch exakte Terminierungen sind natürlich, trotz aller Rationalisierungen, ein Unsinn. Aber sie können durchaus zu einer Selffulfilling Prophecy werden, je nachdem, wie hysterisch die Reaktion vor allem der Betroffenen ausfallen wird. Denn bei allen wirtschaftlichen und technischen Imponderabilien, die Ross Dawson aufzählt, werden vor allem Faktoren, die er in seiner Analyse nicht bedacht hat, über das Fortleben von Zeitungen in gedruckter Form entscheiden. In digitaler Form, auf Lesegeräten und Foliendisplays wird es Nachrichten- und Feature-Inhalte sowieso weiter geben. Gratis höchstwahrscheinlich oder teilweise mit verdeckter Finanzierung durch Nutznießer von stets aktuellen Inhalten – und das werden in dem zur Debatte stehenden Zeitraum kaum mehr Werbetreibende im heutigen Verständnis sein.

Papierlogistik mit angeschlossener Intelligenzia

Das Problem ist also nicht, dass wir nach einem wann immer zu datierenden Zeitungssterben ohne Nachrichten und Meinungen auskommen müssen. Das Problem ist einzig und alleine, dass bislang zu diesem Zweck Unmengen von Papier bedruckt und zu den weit verstreuten Lesern transportiert werden müssen. Die Medienhäuser heute sind eben eher Papier- und Drucklogistiker mit angeschlossener Verwaltung und – im besten Fall – mit einer kleinen angeschlossenen schreibenden Intelligenzia.  Um das Ende dieser Medienhäuser und ihres Businessmodells geht es letztendlich. Und klar ist, dass hier Länder, in denen die Logistik des Zeitungsverteilens besonders aufwändig ist, weil die Entfernungen zu den immer verstreuter werdenden Lesern weit sind, als erste vom Zeitungssterben heimgesucht werden könnten. Also etwa die USA.

Einfluss-Faktoren und blinde Flecke

Ross Dawson hat seiner Prognose eine Menge Faktoren zugrunde gelegt, die durchaus in der Bewertung der Zukunftsperspektiven von Zeitungen Sinn machen. Global gesehen: Verbreitung und Kosten von Smartphones, ePads, Bildschirmfolien, Entwicklung des Anzeigenmärkte, der Druckkosten und der Vermarktungsmöglichkeiten digitaler Inhalte. Regional haben die demographische Entwicklung, technologische Besonderheiten (Bandbreiten), Branchenbesonderheiten (z. B. öffentlich rechtliche Medien), die Besitzverhältnisse, wirtschaftliche Entwicklung, Gesetzgebung und das Kundenverhalten Einfluss auf die Lebenserwartung von auf Papier gedruckten Medien. (Alle Faktoren – auf Englisch – hier.)

Das ist alles soweit richtig, lässt aber ganz wesentliche Faktoren außer acht oder wertet sie nicht richtig. Das sind wirtschaftliche, personelle, inhaltliche und strukturelle Faktoren. Wie schnell und unbarmherzig der Umbruch von analogen auf digitale Medien gehen kann, das hat die Fotoindustrie bereits exemplarisch vorgelebt. Hier hat sich der Markt innerhalb eines halben Jahrzehnts komplett gedreht.

Quelle: GfK

Die Verkaufszahlen (der GFK) zeigen das eindrucksvoll. (Grafik anbei.) Solche Entwicklungen haben eine exponentiale Dynamik – und sind unumkehrbar. Und je schneller die Kosten für Papier, Transport und Verteilung steigen, desto schneller versagt das Businessmodell und der Punkt ist erreicht, an dem es sich nicht mehr rechnet, Zeitungen zu drucken. Der wesentliche Faktor, der diese Entwicklung beeinflusst (und beschleunigt), ist der Mensch – und zwar gleichermaßen auf der Verbraucher- als auch auf der Produzentenseite.

Zeitungen von gestern

Je nachdem in welcher Geschwindigkeit Menschen Zeitungen nicht mehr attraktiv finden und sie für verzichtbar halten, desto schneller werden Werbekunden nicht mehr Anzeigenseiten buchen – und desto weniger rentabel wird der Vertrieb.

Auslöser, warum Menschen Zeitungen für verzichtbar halten, sind auch technische Entwicklungen. Wenn man wie heute ganze Sektionen der Zeitungen am Morgen überblättern kann, wenn man aktiv News in Online-Medien verfolgt, weil man alles schon weiß und tags zuvor gelesen hat, dann lässt das so manchen überlegen, eine Zeitung nicht mehr zu kaufen oder sein Abonnement aufzugeben.

Noch schlimmer aber ist es, wenn die Qualität der Zeitungen kaum mehr mit denen der Online-Medien mithält, weil die Redaktionen kaputt gespart wurden. Bestes Beispiel ist hierfür Berlin. Wer dort die Tageszeitungen durchschaut, erlebt quer durch alle Tageszeitungen kaum mehr irgendwelchen Mehrwert gegenüber den Online-Medien.

Verlust der Bedeutungshoheit

Das viel gravierendere Problem aber ist, dass die Print-Medien drohen, die Bedeutungs-Relevanz und jede Zeitgeist-Kompetenz zu verlieren. Christian Jakubetz, Journalist und Journalismus-Dozent hat das in seinem JakBlog in 10 Thesen zur Zukunft der Zeitungen perfekt auf den Punkt gebracht: „Die Tageszeitungen vergreisen in ihren Redaktionen“.

Fakt ist: Junge Journalisten zieht es nicht mehr in Zeitungs-Redaktionen, und dort wären für sie auch gar keine Plätze frei, weil Personal abgebaut wird. So organisieren dann ältere Redakteure, die der Kündigungsschutz geschont hat, Inhalte für ihresgleichen.

Jeder Versuch, imaginäre jüngere Zielgruppen zu erreichen, muss fast notwendigerweise scheitern. Das System des Print-Journalismus ist schon lange nicht mehr für neue Ideen und neue Themen durchlässig. Dazu ist es seit langem wirtschaftlich wie ideologisch unter Druck. Hinzu kommen Standesdünkel, Selbstgenügsamkeit und Besitzstandswahrung.

Als Verleger Arno Hess und ich als Chefredakteur 1979 die „Münchner Stadtzeitung“ gründeten, waren wir damals auch Nutznießer solch einer Verkrustung der journalistischen Strukturen. Das war damals der Zeitpunkt, als durch das Aufkommen neuer Produktionsmethoden (Kugelkopfschreibmaschine, Offset-Druck) die Produktion neuer, billiger produzierter Zeitungs-Medien technisch und wirtschaftlich möglich war. Und eine neue Generation von Schreibern und Fotografen, teilweise von den Journalistenschulen, teilweise Autodidakten wie ich selbst, konnte sich hier ausprobieren. Sie konnten einen neuen, jüngeren Schreibstil entwickeln, neue Themen entwickeln, kritischer zupacken, neue optische Sichtweisen ausprobieren und nicht zuletzt eine neue Art von Service-Journalismus kreieren.

Bluttransfusion für die Zeitungen

Der wirtschaftliche und inhaltliche Erfolg der Stadtzeitungen – und in ihrer unmittelbaren Folge die Zeitgeistmagazine Tempo und WIENER – waren eine (nötige!) Bluttransfusion für einen sich damals relativ selbst genügenden Journalismus. Fast alle Autoren von damals schreiben heute in den großen Zeitungen und Zeitschriften: Spiegel, Focus, SZ, AZ, Zeit, taz, FAZ, sind im TV- und Filmbusiness oder haben eigene Verlage und Redaktionsbüros aufgemacht.

Ich war 27, als ich die Münchner Stadtzeitung gründete. Und ich war einer der ältesten der Redaktionsriege. Beim WIENER war Wolfgang Maier auch noch keine 30, als er die Chefredaktion übernahm, gleiches gilt für Markus Peichl (Tempo). Das schuf Chancen für junge Schreiber und Talente, wie sie heute undenkbar sind.

Ohne Kontakt zum Neuen

Das garantierte, dass sich die junge Generation in Stil und Inhalten wiederfand. Das war das Erfolgsrezept der Stadtzeitungen quer durch die Republik, allen voran TIP und Zitty in Berlin. Heute findet diese Generation ihre Themen und Ideen bestenfalls in Online-Medien, vor allem aber in den Sozialen Netzwerken. Sie sind für das Zeitungsbusiness ein für allemal verloren.

Wer aber die jungen Menschen als Publikum verliert, der kann keine (neuen) Themen mehr setzen, der kann nicht authentisch den Zeitgeist prägen – oder wenigstens repräsentieren. Der kann nicht wirklich Neues leisten, weder inhaltlich, noch optisch, weder rational, noch emotional. Dann hat sich ein (Massen-)Medium überlebt. Dann bleibt nur die Nische – und für die gelten völlig andere wirtschaftliche Bedingungen.

Ich halte daher die Einschätzung von Ross Dawson, dass in Deutschland 2030 die Zeitungen sterben werden, eher für zu vorsichtig. Ich stimme der Meinung von Christian Jakubetz zu: „Das Zeitungssterben kommt schneller als angenommen.“