Diagnose einer Bagatell-Hysterie

Causa Wulff: Bashing-Rituale 2012

„Würde mich mal jemand dafür loben, dass ich den ganzen Tag noch nichts zum Thema W. getwittert habe?“ Christian Buggisch twittert zurecht, wenn er sich für seine Wulff-Bashing-Enthaltsamkeit loben lassen will. Es macht einen fassungslos, dass Deutschland scheinbar nichts Wichtigeres kennt, als sich über die Verfehlungen eines mittelmäßigen Provinzpolitikers zu echauffieren, den es in einer besonders herben Laune des Peter Prinzips auf die Position des Bundespräsidenten gespült hat.

Christian Wulff hat es mehr als verdient, kritisiert und auch gebasht zu werden, keine Frage. Nicht nur wegen seiner Kredite, seiner Ferienreisen und seinem Hang zum Gratis-Luxus. Sondern vor allem wegen seiner kompletten Uneinsichtigkeit in seine Verfehlungen: seine Kleinhäusler-Mentalität, wie man in Bayern sagt, wenn einer versucht, zwanghaft vor sich selbst größer wirken zu wollen, als er ist. Zudem hat er sich durch seine hahnebüchen desaströse Medienstrategie im Umgang mit seinem Skandal jedes Recht auf sein weiteres Beharren in diesem hohen Amt erfolgreich verwirkt.

Die Symptome einer Bagatell-Hysterie

So weit, so gut. Aber was reitet uns Deutsche, dieses Skandälchen so ernst zu nehmen und uns so manisch auf diese Amateur-Posse zu kaprizieren. Christian Wulff und seine – kleinhäuslerisch – verständliche Unfähigkeit zum Rücktritt ist eine Nichtigkeit, die man bestenfalls mal kurz belachen darf, vorzugsweise als Apercu bei Harald Schmidt. Aber damit genug! Bagatellen solcher Dimension taugen nicht zu Dramen. Aber wenn sie sich zu nicht enden wollenden Medien-Hysterien auswachsen, sagt das viel über den Zustand unseres Landes und seiner Bürger aus. Es verrät viel über den akuten mentalen Status der Deutschen. (Na ja, auch darüber, wie es um die etablierten Medien hierzulande steht.)

Wolfgang Michal vermutet in seinem Blogbeitrag ganz richtig: „Das crossmediale Bohei, das um das (politisch eigentlich überflüssige) Amt des Bundespräsidenten veranstaltet wird – ein Amt, das kaum einen Journalisten jemals ernsthaft interessiert hat – ist ein psychohygienisches Rätsel. Und ein Symptom. Aber für was? Gab es im deutschen Journalismus eine moralische Ruck-Rede? War es die Sehnsucht nach dem guten Prinzen? Oder schmerzt einfach die herbe Enttäuschung, dass es wieder nur ein Frosch ist?“ Gehen wir kurz den Symptomen nach, um dem physischen Momentanzustand unseres Landes und uns Bürgern auf die Schliche zu kommen.

Symptom 1: Wir schrumpfen die Krise

Die Krisen häufen sich: Finanzkrise, Bankenkrise, Euro-Krise. Europa ist bedroht. Die Weltwirtschaft. Die Medien hyperventilieren nun schon seit Monaten im schrillsten Tonfall des Alarmismus. Wir sind inzwischen dagegen immun geworden, wir trotzen der Krise und kaufen, kaufen, kaufen. Aber wirklich perfekt hilft dagegen die Ablenkung durch eine Wulff-Krise, deren liliputaneske Dimension wir nicht fürchten müssen. Eine Krise, die wir beurteilen können, weil wir die Verfehlungen, die wir anklagen, selbst gut kennen, weil wir sie selbst schon begangen haben – oder zumindest gerne begangen hätten. (Gratisurlaub, Upgrade, Schnäppchen, Freunderl-Dienste…)

Wir wählen uns die Krise nach unserem Gusto und portionieren sie so, wie es uns behagt. Wie befreiend, wie beruhigend, wie genüsslich ist es, sich die Krisenlandschaft so gesund zu schrumpfen. Das geht ganz leicht. Denn das Internet ist dafür der ideale Hysterie-Boiler. Ein paar spärliche Fakten, viel Moralin, ein paar Spritzer Hohn – und ganz viel präsidiales Selbstverschulden: Fertig ist die ideale Krisen-Schrumpfung über die Feiertage.

Symptom 2: Die Getriebenen der Meute

Der Hysterie-Boiler funktioniert so gut, weil die Medien sich von der Bloggeria massiv getrieben fühlen. Noch einmal Wolfgang Michal zitiert: „Nicht die Blogger und Twitterer haben sich den Leitmedien angepasst, sondern die Leitmedien den Bloggern und Twitterern. Herausgefordert durch deren kräftige (oft populistische) Sprache, greifen nun auch etablierte Medien immer häufiger zu drastischen Begriffen und Vergleichen, fordern eilends Rücktritte und rigorose Konsequenzen, und zelebrieren die unfreiwilligen Abgänge aus dem öffentlichen Leben als reinigende Buß- und Sühneopfer fürs Volk.“

Die Medien erleben sich immer mehr als Getriebene der Meute des Realtime-Journalismus bzw. der Realtime-Kolportage. Es muss extrem frustrierend sein, etwa als Printjournalist mitzuerleben, wie das eigene Produkt frisch aus der Druckpresse am Morgen rettungslos veraltet ist und schon längst neue Fakten vorliegen, ersatzweise neue Mutmaßungen, und der Diskurs über ein Thema längst schon viel weiter ist. Die Elite der Blogger hat den meisten Journalisten längst die Meinungshoheit abgejagt. – Den  TV-Leuten geht es nicht besser. Sie hetzen sinnlos Bildern hinterher, die nur noch überholte Tatsachen bebildern können. Im übrigen neigt man zunehmend dazu, „Facebook“ oder „Twitter“ zu zitieren als wären sie verlässliche Presseagenturen.

Symptom 3: Klassenkeile für Hierarchen

Wer es aus der Provinz ganz nach oben geschafft hat, mit all den Privilegien und Vergütungen, der ist unausweichlich Opfer unserer Neidgesellschaft. Vor allem, wenn einem wie Wulff das nicht reicht und man noch bei reichen Freunden Urlaub in allem Luxus machen muss oder sich von ihnen Kredite aufdrängen lässt. Aber es steckt da noch mehr dahinter: Wulff-Bashing ist immer zugleich auch Hierarchie-Bashing. Hierarchien werden flacher, das heißt, der Abstand nach oben ist geringer geworden. Das heißt, dass immer mehr nach oben kommen, ohne die nötige Qualifikation zu haben – da ist Christian Wulff das passende Abwatsch-Modell. Er ist Präsidenten-Darsteller wie viele leitende Manager lediglich Chef-Darsteller sind.

Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass sich immer mehr berufen fühlen, ganz nach oben zu kommen. Das untergräbt die natürliche Autorität von jedem, der oben ist, nachhaltig. Und weil es dann doch heikel und selten Karriere fördernd ist, den eigenen Chef anzumachen, kommt Wulff als Ersatzkandidat dafür gerade recht. Er ist der ideale Mann für befreiende Klassenkeile. An ihm kann man alle Aggressionen, Ressentiments und Frustrationen, die man in einem Berufsjahr so ansammelt, wunderbar abbauen. Daher die Moralinsäure, daher die Häme, daher der fast augenzwinkernde Sarkasmus. Und Wulff mit seiner unsäglichen PR-Taktik sorgte auch noch dafür, dass die Affäre dauerhaft am Leben erhalten blieb. Was für ein willkommenes Purifikations-Ritual des kleinen Mannes, passend für die Feiertage!

Symptom 4: Anti-autoritäre Reflexe.

Gemeinsam sind wir stark. Das ist die Erfahrung, die die Baby Boomer von Kindesbeinen an reichlich in einem antiautoritären Klima machen konnten. Und nie zuvor konnte man wieder so schnell und so machtvoll Gemeinsamkeit organisieren und dialogisch feiern wie heute. Aber eben auch Gemeinheiten. Schwarm-Intelligenz ist das gern bemühte Schlagwort. Es gibt aber auch Schwarm-Impertinenz, Schwarm-Penetranz, Schwarm-Perfidie oder Schwarm-Intrige. Ein selbst verstärkender Prozess mit ungeheurer Schlagkraft.

Ein Christian Wulff hatte keine Ahnung, welch Wucht solch ein Prozess entwickeln kann, wenn er nicht rechtzeitig und mit den richtigen Mitteln gestoppt wird. Er hingegen verstärkte und prolongierte mit seinem ungelenken Umgang mit der Öffentlichkeit diesen Prozess. So war der höchste Repräsentant, die höchste Autorität des Staates zur Abrechnung frei gegeben. So konnte dann die eine, ältere Generation (Baby Boomer) ihre fast schon vergessenen antiautoritären Reflexe noch einmal ausleben. Und die junge Internet-Generation (Digital Natives) durfte erstmals dieses Vergnügen auskosten, Riesen zu Zwergen schrumpfen zu sehen, joviale Gesichtszüge in Tagen um Jahre altern zu lassen, schlicht indem man die Autorität als nicht vorhanden (virtuell) behandelt.

Deutschland zu Beginn des Jahres 2012: ein virtueller anti-autoritärer Kindergarten. Die Kinder amüsieren sich prächtig, die Leitungsebene aber versteht die Welt nicht mehr. – Aber das ist ihnen ja inzwischen zur Gewohnheit geworden…

7 Kommentare zu „Diagnose einer Bagatell-Hysterie

  1. Nicht, dass das überraschend wäre: Der Beitrag gehört zum Besten, was ich zur Causa Wulff bisher gelesen habe. Danke!

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