Besuch von Onkel August


Trambahn und die Gerüche Alt-Münchens

Seltsame Assoziationsreihen durchziehen manchmal meinen Kopf. Und sie wecken längst verlorene, verloren geglaubte Erinnerungen. Start der Reise in kindliche Erinnerungen war im Museum der Münchner Verkehrsgesellschaft im Depot in der Ständlerstraße. Ich hatte Lust auf vergangene Trambahn-Erinnerungen.

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Straßenbahnen waren für unsere Familie, die nie ein Auto besessen hat, weil Papas Kriegsverletzungen und Mamas gesundheitliche Instabilität einen Führerscheinbesitz verhinderten, das gängige Verkehrsmittel. Wir nutzten die weiß-blauen Wagen nicht nur, um von Berg am Laim in die Stadt zu fahren, sondern zu wahren Expeditionen. Von uns im tiefsten Osten Münchens zu unseren nächsten Verwandten in Neuaubing, im äußersten Westen der Stadt, fuhr man damals mit der Linie 19 direkt – aber weit über eine Stunde.

Sie Depp, Du!

Auch die wochenendlichen Wanderungen starteten – und endeten – stets mit einer ausgiebigen Straßenbahnfahrt nach Grünwald oder Pullach. Und natürlich brachte mich die Tram auch jeden Tag ins Wilhelmsgymnasium am Max-II-Denkmal und zurück. Auch in den Übungsraum unserer Band, der unglücklicherweise im Norden am Petuelring lag, ging es anfangs mit der Straßenbahn, später mit der neu gebauten U-Bahn. Aber wehe, man verpasste, weil es gerade so viel Spaß machte in Kneipen, Konzertsälen oder Clubs, die letzte Tram nach Hause. Dann hieß es, einen stundenlangen Weg nach Hause zu Fuß in Angriff zu nehmen. Der Ernüchterung half das oft durchaus. Nachtlinien gab es damals halt nicht.

 

Lebhafte Erinnerungen an das Gerumpel und Gewackel der alten Straßenbahnen kommen hoch, wenn man im Museum vor den alten Wagen der Reihe G oder den Heidelberger Wagen oder der wohlbekannten Baureihe M steht. Unvergessen das Initiationserlebnis des Erwachsen-Werdens, als mich ein Schaffner von der hinteren Plattform verjagen wollte und ich mich renitent zeigte. „Sie, Depp, du!“, schnauzte er mich an. Das war das erste „Sie“ meines damals noch sehr jungen Lebens.

Ein Wagen von der Line 8

Die überraschendste Erinnerung aber war eine plötzliche akustische und olfaktorische, als ich vor den barocken Formen des Wagens der Baureihe G stand. Ich wunderte mich, wie klein der Wagen war. Mir als Kind schien die Tram so viel größer. Und plötzlich hörte ich das notorische „Bitte nach vorne durchgehen!“ der durch die Wagen turnenden Schaffner und die damals üblichen Durchsagen, denen Weiß Ferdl mit seinem „Ein Wagen von der Linie 8“ ein wunderbares Denkmal gesetzt hat. „Aber Leit, lassts doch d‘Leit naus!“

Weiß Ferdl

Verblüffender als solch Alt-München-Nostalgie war der plötzliche Erinnerungs-Flash an die Gerüche, die damals in den Wagen herrschten. Denn die sind nicht von Volkssängern besungen. Ich erinnerte mich plötzlich an diese spezielle Mischung aus körperlichen Ausdünstungen, alten, nicht genügend ausgelüfteten Klamotten, Zigaretten- und Zigarrendünsten, Alt-Männer-Geruch, Menstruations-Flair und billigem Parfum.

Frisch mit Trockenshampoo

Wie geruchsbefreit leben wir heute, wurde mir plötzlich klar. Damals wurde bei uns nur einmal in der Woche gebadet. Unter der Woche war der Waschlappen für die nötige Hygiene zuständig. Haare wurden auch nur einmal die Woche gewaschen. Entweder verdeckten Hüte und Kopftücher die fettenden Haare oder es wurden die Haare mit Trockenshampoo („Frottee“ von Schwarzkopf) etwas entfettet. Die Wäsche wurde auch nur zweimal die Woche gewechselt. Entsprechende Ausdünstungen durchzogen damals die engen Wagen der Straßenbahn, in denen man eng auf eng stand, weil es nur so wenig Sitzplätze auf den Holzbänken an den Längsseiten der Wagen gab.

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Während solche olfaktorischen Erinnerungen vor meiner inneren Nase vorbeizogen, stand plötzlich das Bild von Onkel August vor meinem Auge. Er war für mich als Kind der Inbegriff der damaligen Gerüche. Onkel August war nur ein „Nenn-Onkel“, er war ein Kollege und Freund meines Vaters aus seinen Junggesellenzeiten in Berlin. Er war gewaltig dick und sommers wie winters in einen dicken Wollmantel gehüllt, der so typisch nach Onkel August roch. Nach alter, schwerer Wolle, nach wenig Körper- und Kleiderreinigung und ganz viel Zigarrenduft, oder „Gestank“, wie sich meine Mutter auszudrücken pflegte.

Asbach Uralt to go

Onkel August, mit richtigem Namen August Endruschat, war so etwas wie eine Nemesis für meine Mutter. Er kam mindestens einmal pro Jahr aus Koblenz, wo er als Gerichtsvollzieher arbeitete, nach München angereist, um seinen Freund Bruno, meinen Vater, zu besuchen. Er kam manchmal unangekündigt, vielleicht hatte mein Vater auch versäumt, sein Kommen anzukündigen. Aus gutem Grund. Denn meine Mutter wehrte sich stets mit allen Mitteln gegen den Besuch von Onkel August. Stets vergeblich.

Dabei war Onkel August, sein Leben lang Junggeselle geblieben, ein Kavalier. Er brachte immer ein paar Blumen für Mama und für mich ein kleines Matchbox-Auto als Geschenk mit. Das zentrale Problem war aber sein notorisches drittes Geschenk: eine Flasche „Cognac“, wie er immer die Flasche „Asbach Uralt“ hochtrabend zu bezeichnen pflegte. Und so sicher wie das Amen in der Kirche war die Flasche am selben Abend komplett geleert. Asbach to go sozusagen. Papa und Onkel August waren dann stark alkoholisiert, sprich sternhagelvoll und mussten von Mama irgendwie in Betten bugsiert werden.

Zigarre, Wolle und Altherrenschweiß

Nichts hasste Mama mehr als einen alkoholisierten Ehemann. Sie selbst genehmigte sich schon mal einen kleinen Schwips, denn dann konnte sie kicherig wie ein kleines Mädchen werden. Ich erinnere mich an die dann übliche gekicherte „Drohung“: „Ich mache mir gleich in die Schlüpfer.“ Aber der komplette Kontrollverlust bei einem schweren Besäufnis, das war die absolute Alarmsituation in unserem sonst so akkurat geführten Haushalt. Und Onkel August war der Garant für die Ausnahmesituation in der Familie Konitzer.

MichiSteigtEinMeine deutlichste Erinnerung an Onkel August aber war der Geruch, den er mit seinem Besuch ins Haus brachte – und der dann für Tage noch leise die Räume durchzog. Alkohol, Zigarre, alte Wolle und alter Mann. Nicht direkt unangenehm, aber irritierend und fremd. Keinen Geruch, den ich vermisse. Aber die Erinnerung macht klar, wie viel sich seitdem geändert hat. Zum Besseren, auf alle Fälle, für unsere Geruchssensoren. – Warum auch immer solch Erinnerungen wach werden, wenn man leise amüsiert und mäßig interessiert vor alten Straßenbahnen im Tram-Museum der Münchner Verkehrs Gesellschaft steht.

Nachklapp

#Nachklapp 1: Papa war dann der Erbe von Onkel August. Er hatte für eine standesgemäße Beerdigung in Koblenz und ein schönes Grabmal zu sorgen und im Gegenzug erbte er ein paar tausend Mark, ein Radio, das lange in unserem Wohnzimmer seinen Dienst tat und eine goldene Taschenuhr, die irgendwo in der Devotionalien-Kiste mit den Erinnerungen an meine Eltern liegt.

Nachklapp 2: Zeitgleich zu den Öffnungszeiten des Museums fand auch ein umfangreiches Modelleisenbahn-Meeting statt. Faszinierend zu sehen, wie Kinder auch heute noch staunend vor den Landschaften mit den still vor sich hinfahrenden Zügen stehen. (Irgendwo auf dem Speicher wartet auch noch meine Märklin-Eisenbahn auf ihren finalen Einsatz…) Und interessant auch zu sehen, wie viele – auch junge – Menschen sich noch aktiv für das Hobby der Modelleisenbahn begeistern können.